Semasiologische Analyse: Werbeslogan

Ein Autohändler namens Eitel wirbt mit folgendem Slogan:

LIEBER ZU EITEL ALS ZU TEUER

Der Slogan wird verwendet in Kontexten, wo Autos, der Autohändler und sein Name gegeben sind.

(12 P.) Rekonstruieren Sie die Werbewirkung des Slogans durch eine vollständige semasiologische Analyse.

Lösung

Die folgende Analyse rekonstruiert zunächst die Interpretation eines Lesers, der einen analytischen Zugriff auf den Text nimmt. Am Schluß wird dann kurz auf den ganzheitlichen Zugriff eingegangen.

  1. Das Wort /aitel/ ist homonym: es bedeutet:
    1. den Träger des genannten Eigennamens,
    2. “gefallsüchtig”.
  2. In der Bedeutung (a) ist das Wort ein Substantiv (ein Nomen Proprium), in der Bedeutung (b) ein Adjektiv.
  3. Substantive werden im Deutschen groß, Adjektive klein geschrieben. Dadurch, daß der Slogan in Majuskeln geschrieben ist, wird diese Disambiguierungsmöglichkeit annulliert, und beide Bedeutungen bleiben in dem Satz verfügbar.
  4. Das Wort zu ist ebenfalls (mindestens) zweideutig. In Konstruktion mit folgendem Y bedeutet es:
    1. “allativisch zu Y mit schließlichem Kontakt mit Y”,
    2. “in überhöhtem Maße Y”.
  5. Das Wort zu wird in den beiden Bedeutungen wie folgt konstruiert:
    1. In der Bedeutung (a) ist das Wort zu eine Präposition, das ihm folgende Y ein NS und die Konstruktion aus beiden eine Präpositionalsyntagma.
    2. In der Bedeutung (b) ist zu ein Adverb, das ihm folgende Y ein Adjektiv und die resultierende Konstruktion ein Adjektival.
  6. Die beiden homonymen Wörter sind daher in je einer Lesung miteinander zu einer grammatischen Konstruktion kombinierbar:
    1. Das Wort zu ist in der Bedeutung (a) mit dem Wort Eitel in der Bedeutung (a) zu einem Präpositionalsyntagma der Bedeutung “allativisch zu Eitel mit schließlichem Kontakt mit Eitel” kombinierbar.
    2. Das Wort zu ist in der Bedeutung (b) mit dem Wort eitel in der Bedeutung (b) zu einem Adjektival der Bedeutung “in überhöhtem Maße gefallsüchtig” kombinierbar.
  7. Der den Slogan bildende Gesamtsatz ist ein Komparativsatz der Struktur ‘lieber p als q’. Der Satz ist elliptisch: ihm fehlen sowohl das Subjekt als auch das Verb des Prädikats. Das stehengebliebene Syntagma fungiert als eine Art Prädikatsergänzung. Zu den beiden Konstruktionen werden jeweils verschiedene Prädikate und Subjekte (X) ergänzt:
    1. In der Konstruktion (a) ist aus der allativischen Bedeutung von zu ein übergeordnetes Bewegungsverb zu erschließen. Dieser Teilsatz muß daher ungefähr bedeuten “X begibt sich lieber zu Fa. Eitel” bzw. “es ist besser, daß X sich zu Fa. Eitel begibt”; und der Gesamtsatz entsprechend “es ist besser, daß X sich zu Fa. Eitel begibt, als daß X zu teuer Prädikat”. Für Prädikat ergibt sich dann durch Syntax, Semantik und Pragmatik bezahlt.
    2. In der Konstruktion (b) muß das Adjektival das Prädikatsnominal zu einer zu ergänzenden Kopula sein. Der Gesamtsatz muß dann ungefähr bedeuten: “X ist lieber zu eitel als zu teuer” bzw. “es ist besser, daß X zu eitel ist, als daß X zu teuer ist”.
  8. Wenn im Kontext des Slogans Autos, der Autohändler und sein Name gegeben sind, dann wird der Leser zunächst auf die Lesung von #7(a) stoßen. Hier ergibt also die semantische Interpretation, daß es sich darum handelt, daß X sich zu der werbenden Firma begibt und daß X dies präferiert.
  9. Für die Erschließung der Identität des Referenten X, der elliptisch unerwähnt geblieben ist, steht dem Interpreten in erster Linie die Sprechsituation zur Verfügung. Die immer als mögliche Einsetzungen verfügbaren Referenten sind der Sprecher und der Angesprochene, in der hier gegebenen Situation also der werbende Autohändler und der umworbene Leser. Auf dieser Basis kann die Identität von X durch Pragmatik und Weltwissen erschlossen werden: Wenn man verstanden hat, daß es ein Werbeslogan ist, kann man für X sich selbst, den Leser, einsetzen. (Zusätzlich ist es möglich, daß zu dem ergänzten Verb auch eine Satzmodalität zu ergänzen ist, daß also z.B. die Aufforderung ‘Man gehe lieber zu Eitel’ o.ä. gemeint ist. Dies ist jedoch für das Gesamtverständnis nicht entscheidend.) Bis hierhin wirbt der Slogan also trivialerweise darum, daß der Umworbene sich zu dem Werbenden begebe.
  10. Das Secundum Comparationis in dem Vergleich ist der Ausdruck zu teuer. Dieser Ausdruck ist eindeutig; er bedeutet ausschließlich “mit überhöhtem Preis versehen”. Diese Lesung paßt auch nahtlos in einen werbenden Kontext, wo es erwartbar darum geht, daß der Umworbene keine überhöhten Preise bezahlen will. In dieser Konstruktion hat zu die Bedeutung (b), und teuer ist ein Adjektiv wie eitel in der Bedeutung (b).
  11. Allerdings ergibt die Suche nach möglichen Einsetzungen für das elliptische X in “X ist zu teuer”, daß es jedenfalls nicht identisch sein kann mit dem Subjekt des ersten Teils. Der Effekt ist stark anakoluthisch und regt zu einer anderen Interpretation an.
  12. In einer Vergleichskonstruktion des Typs ‘lieber p als q’ besteht (eben dadurch, daß p und q verglichen werden, also vergleichbar sind) ein Parallelismus zwischen p und q. Dieser bezieht sich sowohl auf die semantische als auch auf die grammatische Ebene:
    1. Semantisch: wenn q eine überhöhte Ausprägung einer Eigenschaft ist, dann ist normalerweise auch p eine überhöhte Ausprägung einer Eigenschaft (und nicht, wie in seiner Lesung (a), eine Richtungsangabe).
    2. Grammatisch: wenn q ein Adjektival ist, dann ist normalerweise p auch ein Adjektival (und nicht, wie in seiner Lesung (a), ein Präpositionalsyntagma).
  13. Die Interpretation des zweiten Teils des Slogans zwingt also dazu, die vorläufige Interpretation 6(a) seines ersten Teils zu verwerfen und stattdessen seine Interpretation 6(b) einzusetzen.
  14. In dieser Interpretation ist auch eine neue Identität für das elliptische Subjekt zu suchen, denn der Leser kommt als Subjekt von teuer jedenfalls nicht infrage. Mögliche Subjekte für teuer sind z.B. Autos oder auch Autohändler. Autohändler sind zudem mögliche Subjekte für eitel. Infolge des genannten Parallelismus ergibt sich hier also ein Satz über Autohändler, einschließlich der werbenden Firma.
  15. In dieser Lesung vergleicht der Slogan zwei Eigenschaften, die beide eine negative Konnotation haben, und legt nahe, die erstere, also übermäßige Gefallsucht, zu präferieren, die letztere, also überhöhte Preise, dagegen nicht zu akzeptieren. Bezogen auf das im vorigen Schritt erschlossene Subjekt ergibt weitere semantische Interpretation, daß der werbende Autohändler eitel sein mag, aber jedenfalls nicht teuer ist, und daß seine Eitelkeit im gegebenen Zusammenhang als liebenswerte Schwäche durchgehen kann.
  16. An diesem Punkte der Interpretation ist sich der Leser bereits bewußt, daß der Ausdruck <ZU EITEL> zweideutig ist. Ferner setzt er voraus, daß es sich um Werbung für die Fa. Eitel handelt und daß die Botschaft sich nicht auf eine moralische Bewertung von Eitelkeit beschränkt. Folglich setzt er wiederum Lesung 6(a) für p ein und erhält als Interpretation, daß es besser ist, zu Fa. Eitel zu gehen, als zu teure Preise zu bezahlen. Und mit weiterer pragmatischer Inferenz: Wenn ich nicht überhöhte Preise bezahlen will, gehe ich zu Fa. Eitel. Dieses ist die Botschaft des Slogans.
  17. Gemäß #1 trägt die werbende Firma einen Namen, der mit einem anderen Wort homonym ist, welches negative Konnotationen hat. Dieses Faktum an sich könnte geschäftsschädigend sein. Dadurch, daß sie diesen Slogan verwendet, geht die Firma dieses Problem offen an und humorvoll-spielerisch damit um. Der Leser, der dies erkennt, wird für die Firma eingenommen. Diese Wirkung wirbt sicher noch stärker für die Firma als die bis hierhin erschlossene, relativ triviale Botschaft.

Statt des dargestellten Vorgehens kann man auch einen ganzheitlichen Zugriff auf den Text nehmen, da man ihn in einem Zug erfassen kann.

  1. Dann sieht man zuerst, daß es sich um einen Vergleich zwischen p und q handelt, in dem p präferiert wird, und man erwartet den genannten Parallelismus zwischen p und q. Hier ergibt sich als erste die Interpretation von #14.
  2. Der Leser gibt sich mit dieser Interpretation nicht zufrieden, weil er die Motivation für die mitgeteilte Präferenz nicht versteht. Er tut nun zweierlei:
    1. Er kontextualisiert den Satz und sieht, daß es sich um eine Werbung der Fa. Eitel handelt.
    2. Er nimmt den analytischen Zugriff und entdeckt die Interpretation von #9.

Die weiteren Schritte sind dann wie oben in #15 – #17.