Eine Wissenschaft hat einen Gegenstandsbereich, den sie erforscht. Dieser ist in vielen Fällen bereits vorwissenschaftlich gegeben, und es existieren auch in der Alltagssprache schon vorwissenschaftliche Begriffe zu seiner Erschließung. Die wissenschaftliche Durchdringung des Gegenstandsbereichs macht immer die Prägung weiterer Begriffe notwendig, sei es, daß Phänomene des Gegenstandsbereichs allererst auf den Begriff gebracht werden, sei es, daß sie zwar durch vorhandene Begriffe abgedeckt werden, diese jedoch zu ungenau sind oder jedenfalls nicht in die jeweilige Theorie passen. Ein wesentlicher Aspekt aller Wissenschaft, genauer: ihrer Methodologie und Theoriebildung, ist die Begriffsbildung. Im Kapitel über Definitionen war bereits dargestellt worden, daß Begriffe operationalisiert werden müssen. Das besagt, daß die Kriterien angegeben werden müssen, nach welchen ein Phänomen des Gegenstandsbereichs unter den Begriff fällt. Diese Operationalisierung kann komplex sein in dem Sinne, daß ein mehrstufiger Weg angegeben wird, der den Begriff mit dem Phänomen verbindet. Solche Verfahren anzugeben ist Aufgabe der Methodologie der betreffenden Wissenschaft.
Im Kapitel über Abstraktion ist dargestellt, wie abstrakte Begriffe gebildet werden. Ein wesentliches in diesem Zusammenhang entstehendes methodologisches Problem ist, daß die Operationalisierung eines Begriffs im genannten Sinne mit zunehmender Abstraktion immer schwieriger wird. Diese Problematik ist Gegenstand des vorliegenden Kapitels.
Jeder Begriff ist wesentlich auch durch die Begriffe definiert, welche zu ihm in Beziehung stehen. In der Alltagssprache stehen Begriffe in semantischen Netzen von der Art, wie sie im Kapitel über begriffliche Relationen analysiert wurden. In der Wissenschaft sind Begriffe Bestandteile von Theorien und haben ihre Funktion in deren Zusammenhang. Man kann sie nicht ohne weiteres aus diesem Zusammenhang lösen. (Das ist übrigens ein Hauptproblem eines Wörterbuchs der Termini einer gegebenen Wissenschaft.) Auch ein wissenschaftlicher Begriff, der einem alltagssprachlichen Begriff einigermaßen zu entsprechen scheint, wie z.B. der Begriff ‘Bedeutung’, steht in der Wissenschaft in Beziehung zu anderen wissenschaftlichen Begriffen wie ‘Denotatum’ und ‘Referent’, die in der Alltagssprache keine Entsprechung haben. Insoweit diese Beziehungen zu Nachbarbegriffen in Wissenschaft und Common Sense verschieden sind, kann der wissenschaftliche Begriff gar nicht dem alltagssprachlichen entsprechen.
Der Laie erwartet vom Wissenschaftler, daß er einen existenten Begriff klärt. Aus den soeben ausgeführten Gründen ist das in vielen Fällen unmöglich. Stattdessen setzt der Wissenschaftler ein Explicandum an, also einen Begriff, der expliziert werden soll, und entzieht sich insoweit dem Ansinnen des Laien. Betrachten wir als Beispiel den Begriff ‘Sprache’. Man kann es als Aufgabe der Sprachwissenschaft als der zuständigen Wissenschaft ansehen, diesen Begriff zu explizieren. Diese hat sich der Aufgabe auf verschiedene Weisen entledigt, von denen wir zwei kurz betrachten wollen.
Ein vergleichsweise konservativer Lösungsansatz ist von Ferdinand de Saussure in seinem 1916 publizierten Cours de linguistique générale gewählt worden. Er stellt fest, daß der Ausdruck Sprache in verschiedenen Verwendungen wie den folgenden vorkommt:
B1. | a. | Im Unterschied zum Tier verfügt der Mensch über Sprache. |
b. | Wir kommunizieren durch Sprache und Gestik. |
B2. | a. | Erna beherrscht die französische Sprache. |
b. | Diese Sprache verstehe ich nicht. |
B3. | a. | Das verschlug Erna die Sprache. |
b. | Das kam noch nicht zur Sprache. |
In jedem der drei Beispiele illustrieren das a-Beispiel und das b-Beispiel denselben Begriff:
In einem ersten Schritt hat de Saussure also dargetan, daß der alltagssprachliche Begriff von Sprache mindestens polysem, wenn nicht sogar vage oder sonstwie wissenschaftlich unbrauchbar sei, und hat ihm drei klarer umgrenzte Begriffe gegenübergestellt, die er mit je einem Terminus belegt. Sein nächster Schritt besteht nun darin, sein Explicandum zu wählen. Er vermutet, daß für den ‘langage’ Naturwissenschaften wie die Biologie und die Anthropologie zuständig seien. Die ‘parole’ weist er der Psychologie zu. Die ‘langue’ dagegen ist nach de Saussure das genuine Explicandum der Linguistik. Ihr widmet er seine Theorie, welche die Sprache im wesentlichen als ein System von Zeichen und distinktiven Einheiten behandelt.
Man kann bereits bei diesem relativ konservativen Ansatz feststellen, daß der Wissenschaftler das Ansinnen, einen vorwissenschaftlichen Begriff zu explizieren, zurückweist und sich stattdessen ein Explicandum wählt, das weder als Begriff der Alltagssprache existiert noch eine unmittelbare Entsprechung im Phänomenbereich hat. Die Saussuresche ‘langue’, die “historische” Sprache als System, ist nicht beobachtbar. Beobachtbar ist offensichtlich die ‘parole’, die jeweils aktuelle Rede. Die ‘langue’ ist eine Abstraktion über all den Vorkommen von ‘parole’. Wovon da aber genau abstrahiert wird, darüber sind sich die Linguisten bis heute nicht einig. Einig sind sich allerdings viele mit de Saussure, daß sie sich ausgerechnet mit dem, was unmittelbar beobachtbar ist, eher nicht (oder allenfalls in Lippenbekenntnissen) befassen.
Einen Schritt weiter geht Noam Chomsky in diversen Publikationen seit 1986. Er setzt fest, daß das Explicandum seiner linguistischen Theorie die Sprachkompetenz ist. Das ist die Fähigkeit eines Menschen, grammatische Sätze seiner Muttersprache zu bilden und zu verstehen und Urteile über Grammatikalität von Sätzen abzugeben. Die Sprachkompetenz ist, leicht vereinfacht gesagt, eine mentale Repräsentation von de Saussures ‘langue’. Dieser Gegenstand ist ebenfalls nicht beobachtbar. Neu ist, daß Chomsky ihn scharf gegen die Sprache absetzt. Die Sprache ist eine Fülle von heterogenen, in der uns umgebenden Welt auftretenden Phänomenen, die zum Teil Manifestationen der Kompetenz sind, zum Teil aber auch anderen im menschlichen Geist verdrahteten Modulen wie der Wahrnehmung, der Kognition, der sozialen Kontaktaufnahme, der Lautgebung usw. entsprechen. M.a.W., die Sprache ist überhaupt kein würdiger Gegenstand einer Wissenschaft; sie ist, in Chomskys Worten, ein “Epiphänomen” der Kompetenz. Diese dagegen ist Gegenstand linguistischer Theoriebildung.
Die Kompetenz ist ihrerseits idealisiert. Kein Mensch hat eine vollkommene Kompetenz seiner Muttersprache; für jeden gibt es Aspekte seiner Muttersprache, die er nicht kennt, und andere, in denen er sich irrt oder unsicher ist, ganz abgesehen davon, daß er beim konkreten Sprechen ständig gegen seine eigene Kompetenz verstößt. Auch unterscheiden sich die Kompetenzen der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft dadurch, daß sie verschieden alt sind oder verschiedenen sozialen oder dialektalen Gruppen angehören. Solche Variation tritt, wie im Kapitel über Abstraktion zu sehen ist, in allen natürlichen Sprachen auf. Aber Chomskys Kompetenzbegriff ist idealisiert, d.h. von solcher Variation wird abgesehen. Der ideale Sprecher, dessen Kompetenz Gegenstand der Wissenschaft ist, beherrscht eine homogene, sich nicht wandelnde Sprache vollkommen und ist nie im Zweifel.
Hier wird deutlich, daß der Wissenschaftler sich mit dem von ihm gewählten Explicandum seinen Gegenstandsbereich selber schafft, der zu nichts von dem, was der Laie erklärt haben wollte, eine unmittelbare Beziehung aufweist. Es wird ausdrücklich erklärt, daß Sprachwissenschaft nichts mit Sprache zu tun hat. Dies ist zweifellos ein krasser Fall der Entfernung der wissenschaftlichen Begriffsbildung von Alltagsbegriffen. Die Operationalisierung der theoretischen Begriffe wird der inneren Konsistenz der Theorie geopfert.
Wir bleiben beim Beispiel der linguistischen Theorie Noam Chomskys, weil es in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive lehrreich ist. Die Fähigkeit des idealen Sprecher-Hörers, eine unendliche Menge grammatischer Sätze zu erzeugen bzw. zu verstehen, wird in der Version der Theorie von 1965 wie folgt modelliert:1 Der Satz hat eine grammatische Struktur, genannt “Oberflächenstruktur”. Diese ist jedoch in verschiedener Hinsicht unregelmäßig und ungeeignet, an ihr eine Semantik anzusetzen, welche die Bedeutungskompositionalität modelliert. Dem Satz wird deshalb außerdem eine “Tiefenstruktur” zugewiesen. Dies ist eine andere syntaktische Repräsentation, welche nach einfacheren Regeln gebildet und daher der semantischen Analyse besser zugänglich ist. Das linguistische Modell erzeugt zunächst die Tiefenstruktur eines Satzes und leitet in einem zweiten Schritt aus dieser nach Regeln die Oberflächenstruktur ab.
Ein einfaches Beispiel verdeutlicht den Zusammenhang. Die grammatische Struktur des Satzes Erna rennt Erwin um läßt sich wie folgt angeben:
S | |||||||
VS | |||||||
NS | V | NS | Adv | ||||
Erna | rennt | Erwin | um |
Wie man sieht, kann die Tatsache, daß um und rennt zu dem Verb umrennen zusammengehören, in dieser Darstellung der Oberflächenstruktur nicht repräsentiert werden, und ebensowenig wird klar, daß dieses Verb sich als ganzes mit seinem direkten Objekt Erwin kombiniert. Das wird besser in folgender Darstellung der Tiefenstruktur desselben Satzes:
S | |||||||
VS | |||||||
V | |||||||
NS | NS | Adv | V | ||||
Erna | Erwin | um | rennt |
Hier nun sind die von der Intuition geforderten Beziehungen repräsentiert. Freilich ist die Folge, so wie sie dasteht, kein deutscher Satz. Zusätzlich zu der Abteilung der Grammatik, welche die Tiefenstruktur eines Satzes beschreibt, wird also ein Regelmechanismus benötigt, der diese Tiefenstruktur in die Oberflächenstruktur überführt. (Dieser kann als die Operationalisierung des Begriffs der Tiefenstruktur betrachtet werden.)
Weder die Tiefenstruktur noch die Oberflächenstruktur eines Satzes sind beobachtbar. Was also soll mit diesen theoretischen Begriffen erreicht werden? Die selbstgestellte Aufgabe ist, wie in Abschnitt 2 gesehen, die Kompetenz des Muttersprachlers zu modellieren, der eine unbegrenzte Menge grammatisch wohlgeformter Sätze erzeugen und verstehen kann. Das Modell ist ein Algorithmus, der dieselbe Fähigkeit hat. Er kann die Sätze nur erzeugen, indem er ihnen gleichzeitig ihre grammatische Struktur, d.i. in erster Linie ihre Oberflächenstruktur zuweist. Diese jedoch kann er ihnen nur zuweisen, wenn er ihnen in einem ersten Schritt eine Tiefenstruktur zuweist, aus welcher die Oberflächenstruktur erst abgeleitet wird.
Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur sind Eigenschaften, welche die Theorie Sätzen natürlicher Sprachen zuschreibt. Es sind also theoretische Konstrukte; ihnen entspricht nichts in der beobachtbaren Realität. Sie sind lediglich Voraussetzungen dafür, daß die Theorie diese Sätze überhaupt darstellen kann. Wenn erstens die Sätze selbst wirklich sind und zweitens diese ihre Eigenschaften notwendige Voraussetzungen der Sätze sind, dann sind Tiefen- und Oberflächenstrukturen auch selbst wirklich.
Aus dieser Formulierung ergibt sich die Bedingtheit theoretischer Konstrukte: Sie müssen nicht nur operationalisiert werden, damit sie zu beobachtbaren Phänomenen in Beziehung gesetzt werden können. Sie müssen ihre Existenz auch durch ihre Notwendigkeit beweisen. Andernfalls droht ihnen Ockhams Rasiermesser.
Die Beispiele zeigen einerseits, daß theoretische Begriffe nur innerhalb des Zusammenhangs einer Theorie ihren Sinn haben und folglich nicht isoliert bzw. außerhalb der Theorie einer Prüfung unterzogen werden können. Andererseits sieht man auch, daß dies den Test der empirischen Adäquatheit einer Theorie erschwert. Es besteht in einigen empirischen Wissenschaften eine Tendenz, Theorien so abstrakt zu machen, daß zwar ihre logische Konsistenz noch überprüfbar ist, die empirische Falsifikation jedoch nahezu verunmöglicht wird. Wenn also die Einbettung theoretischer Begriffe in eine Theorie zum Zwecke der Immunisierung gegen Falsifikation genutzt wird, ist der Punkt erreicht, wo Abstraktion ihren Nutzen verliert.
1 Seitdem hat sich manches an der Terminologie, jedoch nichts Wesentliches an der Konzeption geändert.