In einem Wort mit mehr als zwei Morphemen sind mehr als zwei verschiedene binäre Konstituentenstrukturen möglich. Ein Wort wie unterscheidbar kann theoretisch als [ unter [ scheid bar ]] oder als [[ unter scheid ] bar ] zu analysieren sein. Von den alternativen Konstituenzen ist normalerweise genau eine richtig.
- Das erste Kriterium ist, ob die Bestandteile in der Sprachnorm existieren. Im gegebenen Beispiel entsteht bei der ersten Analyse ein Stamm scheidbar, welcher nicht existiert, während die zweite Analyse nur Stämme ergibt, die auch existieren.
- In anderen Fällen wie [ Ver [ besser ung ]] vs. [[ Ver besser ] ung ] führt das erste Kriterium zu keiner Entscheidung. Hier muß man für beide denkbaren Ableitungsrichtungen die Operationen formulieren und deren allgemeine Anwendbarkeit, insbesondere auch auf einfache Basen, untersuchen.
- Bei der ersten Analyse hat man einen Operator [ ver- [ X ]N ]N und einen Operator [ [ X ]V -ung ]N. Für den ersten findet man nur Beispiele des Typs Verbesserung, etwa Veränderung, Verbeugung, nicht jedoch etwa Vermodifikation, Verliebe. Diese (scheinbare) Operation ist also nur auf Basen anwendbar, die bereits auf -ung abgeleitet sind.
- Bei der zweiten Analyse hat man einen Operator [ [ X ]V -ung ]N und einen weiteren [ ver- [ X ]A]V. Für den ersten findet man zahlreiche Beispiele des Typs Besserung, Ahnung; für den zweiten kann man verschlechtern, verschönern, vergröbern u.v.a.m. anführen.
Man könnte versuchen, die erste Analyse zu retten, indem man den Operator so formuliert: [ ver- [ X-ung ]N ]N. Das verletzt aber das Prinzip, daß ein Operator nicht in die Struktur seines Operanden hineinsieht, welches eine Ausprägung des Prinzips der syntaktischen Irrelevanz der Wortbildung ist.1
- Schließlich bleiben Fälle wie Unsauberkeit. Die Formulierung der Derivationsoperationen ergibt folgendes:
- Eine Analyse als [ Un [ sauber keit ] ] würde die Operationen [ un- [ X ]N ]N sowie [ [ X ]A -keit]N voraussetzen. Für die erste lassen sich Unart, Unding, Ungnade, Untugend anführen, für die zweite Heiterkeit, Wenigkeit usw.
- Eine Analyse als [ [ Un sauber ] keit ] würde die Operationen [ [ X ] A -keit ]N und [ un- [ X ]A ]A voraussetzen. Die erste ist dieselbe wie in der ersten Analyse. Für die zweite lassen sich Beispiele wie unschön, ungut usw. anführen.
Dies führt also zu keiner Entscheidung. Hier ist (in scheinbarem Gegensatz zum zweiten Kriterium) die Produktivität ausschlaggebend: Auch komplexe und entlehnte Adjektive lassen sich jederzeit mit un- präfigieren (unentwirrbar, unaggressiv), während (scheinbare) komplexe nominale Basen wie in [ Un [ sauber keit ] ] nur möglich sind, wenn auch das entsprechende deadjektivische Adjektiv (eben unsauber) existiert, also z.B. nicht Unheiterkeit, Unpersistenz usw. Das heißt, wie immer Unart usw. zustandegekommen sein mögen, im untersuchten synchronen Stadium gibt es jedenfalls keine Wortbildungsoperation [ un- [ X ]N ]N.
1 Das gilt jedenfalls auf der funktionalen Ebene. Auf der Ebene der Allomorphie kommt es natürlich vor, daß die Auswahl von Varianten eines Operators sich nach der inneren Struktur des Operanden bestimmt.