In referiert der Ausdruck Erna
auf eine Entität, die der Sprecher mit dieser Erwähnung als im
Redeuniversum vorhanden präsupponiert. Der Ausdruck der Kleinen im Folgesatz hat denselben Referenten. Die
beiden Ausdrücke sind also koreferent(iell) (oder
referenzidentisch). Um in formaler linguistischer Analyse Koreferenz
von sprachlichen Ausdrücken zu bezeichnen, versieht man sie mit Referenzindizes. Das sind Variablen, die aus den Kleinbuchstaben i, j, k ...
bestehen und als Subskripte an den koreferentiellen Ausdrücken notiert
werden.
. | Ernai gefällt uns. Wir wollen [ der Kleinen ]i was schenken. |
Die Operation, in einem Text einen Ausdruck zu verwenden, der koreferentiell mit einem früheren Ausdruck ist, heißt Anapher (“Wiederaufnahme”). Der Ausdruck der Kleinen in ist anaphorisch zu dem Ausdruck Erna im vorangehenden Satz. Auch die Relation des zweiten zu dem ersten koreferentiellen Ausdruck heißt also Anapher.
Referenz ist eine Beziehung zwischen einem sprachlichen Ausdruck (inkl. dessen Significatum) und einem Referenten, also einer nicht-sprachlichen (und folglich auch nicht im Text befindlichen) Entität. Ihr steht die Anapher gegenüber als eine bestimmte Beziehung zwischen einem sprachlichen Ausdruck und einem anderen sprachlichen Ausdruck im selben Text. Dieser Unterschied zwischen den beiden Operationen/Relationen wird treffend durch die – weit weniger gebräuchlichen – Termini ‘Exophora’ und ‘Endophora’ bezeichnet.1 Endophora ist also die syntagmatische Beziehung zwischen koreferentiellen Ausdrücken. Sie umfaßt die Anapher und die dazu spiegelbildliche Operation, die Katapher/Kataphora, den Vorausverweis. So ist in der Ausdruck dies kataphorisch zu dem ganzen folgenden Satz.
. | Ich meinte nur dies: wir sollten uns nicht übernehmen. |
Die hierarchischen Beziehungen zwischen diesen Begriffen sind mithin die folgenden:
Aus dem genannten Grund wird oft auch Anapher zur Bezeichnung des Oberbegriffs ‘Endophora’ verwendet.
Anapher kann durch lexikalisch besetzte nominale Ausdrücke, wie in , oder durch Pronomina, wie in ', geleistet werden. Katapher ist nur durch Pronomina möglich, wie in .
.' | Ernai gefällt uns. Wir wollen [ ihr ]i was schenken. |
Endophora ist also eine Relation zwischen Ausdrücken, die auf deren Koreferenz beruht. Wie die Beispiele zeigen, können diese Ausdrücke verschieden lauten. Sie können auch gleich lauten; z.B. könnte man in statt der Kleinen auch wieder Erna einsetzen. Koreferenz und Ausdrucksidentität sind voneinander unabhängig: koreferente Ausdrücke können gleich oder verschieden lauten; und gleichlautende Ausdrücke können koreferent sein oder disjunkte Referenz haben. Insbesondere sind zwei identische Ausdrücke im selben Satz normalerweise nicht koreferent. So müssen sich in die beiden Vorkommen von dir auf verschiedene Gesprächspartner beziehen, und ebenso müssen in die beiden Vorkommen von Student disjunkte Referenz haben.
. | Ich habe schon mit dir und dir darüber gesprochen. |
. | Trifft ein Student einen Studenten und sagt: ... |
Endophora ist eine syntagmatische Relation zwischen Ausdrücken in einem Text. Sie überquert normalerweise die Satzgrenze, und zwar präzise gesagt, mindestens die Klausengrenze.
. | a. | Da Erwin unrasiert war, rasierte Erna Erwin. |
b. | Da Erwin unrasiert war, rasierte Erna ihn. | |
c. | Erwin rasierte Erwin/ihn. | |
d. | Erwin rasierte sich. |
In .a ist ein Partizipant des Nebensatzes mit einem des Hauptsatzes identisch (nämlich koreferentiell). Die Anapher kann hier durch Wiederholung des ganzen referierenden NSs – hier eines Eigennamens – geschehen; oder der anaphorische Ausdruck kann ein Personalpronomen sein, wie in .b (und schon in '). Ein Pronomen, das anaphorisch fungiert, ist ein Anaphorikum (und ein kataphorisch fungierendes ein Kataphorikum).
Befinden sich die koreferentiellen Ausdrücke in einer einzigen
Klause, so ist gewöhnliche Anapher – also auf die Weise wie in .a oder b – nicht mehr möglich. Stattdessen
ergibt diese Konstellation eine reflexive Konstruktion, wie in .d. Versucht man doch, in einer solchen
Konstruktion die Mittel der normalen Anapher einzusetzen, wie in .c, so wird keine Koreferenz hergestellt. M.a.W.,
man versteht hier, daß es zwei Lebewesen namens Erwin gibt bzw. daß
Erwin jemand anders rasiert.
In semasiologischer Perspektive findet man, daß Pronomina der
dritten Person oft nicht auf entweder deiktischen oder anaphorischen
Gebrauch festgelegt sind. So fungiert das Demonstrativum dieser in .a deiktisch, in
#b jedoch anaphorisch.
. | a. | Welchen willst du? - Gib mir mal diesen. |
b. | Herein kamen Erwin und Friedrich. Dieser sah müde aus, während jener einen munteren Eindruck machte. |
Zudem kann man bei den anaphorischen Pronomina solche, die die schiere Anapher leisten, unterscheiden von solchen, die zusätzlich demonstrative Merkmale haben. Im Deutschen haben wir z.B. den Wechsel zwischen er und der.
. | a. | Weißt du das Neuste von Hansi? Der/er hat sich doch schon wieder scheiden lassen. |
b. | Was denn, den Herrn Bleifuß willst du mir vorstellen? Den kenne ich doch schon längst! | |
c. | Plötzlich stand Friedrich im Zimmer. Niemand hatte ihn kommen hören. |
Wie erkennen läßt, ist das paradigmatische Verhältnis zwischen dem demonstrativen der und dem nicht-demonstrativen (also rein anaphorischen) er höchst kompliziert. In #a können beide stehen, in #b kann nur das eine, in #c nur das andere stehen.
Die meisten bisher gesehenen phorischen Ausdrücke beziehen sich auf Nominalsyntagmen mit lexikalischem Kopf. Dies ist der einfachste Fall. Von den anderen möglichen Fällen interessiert hier noch der Fall, daß der Bezugspunkt (Antezedens) eines anaphorischen Ausdrucks ein Satz ist. Dies wird bereits durch illustriert. – sind weitere Beispiele von propositionaler Anapher:
. | Erna studiert Linguistik. Diese Tatsache war dir wohl nicht geläufig? |
. | Was studiert Erna nochmal? Ich vergesse es immer wieder. |
. | Erna studiert Linguistik, was mal wieder komplett ins Bild paßt. |
In allen drei Beispielen ist der Inhalt des ersten Satzes der Referent des anaphorischen Ausdrucks des zweiten Satzes. Und auch in diesem Falle kann der anaphorische Ausdruck ein – mit einem Demonstrativum determiniertes – lexikalisches NS () oder ein anaphorisches Pronomen () sein. In ist es ein Relativpronomen (mehr dazu unten). Ein Relativsatz, der sich auf einen ganzen Satz bezieht, ist übrigens notwendigerweise appositiv.
Ein Spezialfall der Anapher auf einen Vorgängersatz ist die Bejahung oder Verneinung einer Äußerung – im einfachsten Falle einer Frage – des Mitunterredners, wie in .
. | Du studierst wohl Linguistik? – Ja/Nein. |
Hier repräsentiert das Wort ja die Proposition “ich studiere Linguistik”. Es ist folglich ein Anaphorikum, das Koreferenz mit dem herstellt, was durch einen Vorgängersatz gemeint ist.
Zum Unterschied zwischen propositionaler Anapher und Textdeixis gibt es eine eigene Seite.
Zwischen den koreferentiellen Ausdrücken in .a oder b besteht keine syntaktische Beziehung. Für die Anapher wären genau dieselben Ausdrücke geeignet, wenn ihre syntaktische Funktion eine andere wäre, wie in .
. | a. | Da sie Erwin unrasiert fand, rasierte Erna Erwin. |
b. | Da Erwin Rasiercreme übrig hatte, rasierte er Erna. |
Folglich ist Anapher zwar eine syntagmatische Beziehung zwischen Ausdrücken, aber in erster Linie eine semantische, keine strukturelle Beziehung. Hierzu sind allerdings zwei Einschränkungen zu machen:
Die Funktion der Anapher ist der Hinweis, daß der gemeinte Referent sich bereits im Redeuniversum befindet, weil er im Vortext erwähnt wurde. Die Explizitheit des anaphorischen Ausdrucks variiert auf einem Kontinuum: Die expliziteste Form ist ein lexikalisch besetztes NS, wie in und .a. Eine sparsamere Anapher verwendet nur ein Personalpronomen, wie in ' und .b. Bei minimaler Distanz zwischen dem Bezugsausdruck und dem anaphorischen Ausdruck ist auch implizite Anapher oder Nullanapher möglich. Dabei bleibt die syntaktische Position, die das koreferentielle Pronomen besetzen würde, leer. Dies geschieht z.B. regelmäßig im Lateinischen, Italienischen und Spanischen in Situationen wie in .
. | Linda | sigue | muy | débil. | Sufrió | mucho. |
Span | Linda | fortfahr:PRÄS.AKT.3.SG | sehr | schwach | erleid:PRT.AKT.3.SG | viel |
“Linda ist immer noch schwach. Sie hat ja auch viel gelitten.” |
Diese Art von Nullanapher kommt im Hochdeutschen nicht vor, wohl aber im Umgangsdeutschen, wie in , und im Telegrammstil.
. | Erna ist immer noch etwas schwach. Hat ja auch viel durchgemacht. |
Unter bestimmten syntaktischen Bedingungen ist die Anapher immer implizit. Z.B. bleibt die Subjektsstelle eines Infinitivs im Deutschen und vielen anderen Sprachen leer. Manchmal ist sie jedoch referentiell, d.h. man hat sich die Subjektsstelle mit einem bestimmten Referenten besetzt zu denken, wie in .
. | Erna versprach Erwin, der Kleinen was zu schenken. |
Hier ist das implizite Subjekt des Infinitivs koreferent mit Erna bzw. allgemeiner, dem Subjekt des Matrixsatzes.
Der Vollständigkeit halber wären noch andere Kategorien anaphorischer Ausdrücke, etwa klitische Pronomina, anzuführen. Die Beispiele reichen jedoch hin, um eine Gesetzmäßigkeit zu sehen: Die Explizitheit der Anapher korreliert mit der syntaktischen Distanz zwischen dem Bezugsausdruck und dem anaphorischen Ausdruck auf einer Skala wie folgt:
syntaktische Distanz | maximal | ↔ | minimal | ||
---|---|---|---|---|---|
syntaktische Distanz | mehrere Sätze im Text | ... | Nachbarsatz oder Klause eines zusammengesetzten Satzes | ... | selbe Klause oder Infinitivkonstruktion |
Explizitheit der Anapher | maximal explizit | ↔ | implizit | ||
anaphorischer Ausdruck | lexikalisches NS | ... | Personalpronomen | ... | 0 |
Die kommunikative Funktion dieses Prinzips ist offensichtlich, daß wenn der Hörer sowieso gerade auf einen bestimmten Referenten aufmerksam ist (rechter Pol des Kontinuums), dieser nicht eigens genannt werden muß. Und je weiter die Erwähnung des Referenten zurückliegt, desto mehr Aufwand ist zu treiben, um die Aufmerksamkeit wieder auf ihn zu richten. Insbesondere können in der Zwischenzeit ja auch andere Referenten genannt worden sein, von denen der gemeinte nun (durch lexikalische Mittel) unterschieden werden muß. So gelangt man schrittweise an den linken Pol der Skala. Weiteres zu diesem Thema auf der Seite über den Topic.
Da die waagerechte Dimension der Skala von links nach rechts den grammatischen Ebenen abwärts folgt, gilt wieder das Penthouse Principle: Sobald die Anapher innerhalb der Satzgrenzen stattfindet, fangen grammatische Beschränkungen darüber an. Während in .a und b der Nebensatz Adjunkt zum Verb des Hauptsatzes war, ist er in dessen direktes Objekt. Dieses ist ein engeres syntaktisches Verhältnis, und folglich gelten über der Anapher engere Beschränkungen. Die in intendierte Koreferenz kann durch .a nicht ausgedrückt werden (der Satz wäre nur grammatisch, wenn zwei verschiedene Referenten Erna hießen). Die Fassung #b ist zwar möglich, aber umständlich. Die glatteste Fassung ist #c, mit Nullanapher.
. | a. | *Ernai glaubte, daß Ernai träumte. |
b. | Ernai glaubte, daß siei träumte. | |
c. | Erna glaubte zu träumen. |
Nach dem bisher Gesagten sind anaphorische Verhältnisse oberhalb der Grenze des Satzes (sentence) wenig bis gar nicht von der Grammatik geregelt, während sie innerhalb der Klause vollständig geregelt sind, jedoch unter Reflexivität fallen. Somit bleibt als Domäne für grammatische Regeln über anaphorische Verhältnisse im eigentlichen Sinne der komplexe Satz. Tatsächlich involvieren die meisten grammatischen Konstruktionen, die mehr als eine Prädikation enthalten, in wesentlicher Weise eine Anapher, wobei implizite Anapher besonders wichtig ist. Denn wann immer die abhängige Klause einer solchen Konstruktion infinit ist, bleibt eine Valenzstelle ihres Verbs – i.a. die Subjektstelle – unbesetzt, ist aber in vielen Konstruktionen als per Anapher besetzt zu denken. ist ein weiteres Beispiel mit einer abhängigen Infinitivkonstruktion. Der Referent des Subjekts von knacken ist Erwin, der Referent des Objekts ist die Nuß aus dem Hauptsatz.
. | Erna gab Erwin eine Nuß zu knacken. |
. | Erwin bevorzugt Studentinnen, die nicht rauchen. |
Eine deutsche Relativkonstruktion wie in beruht (mit leichter Vereinfachung) auf einer anaphorischen Beziehung zwischen dem Relativpronomen, hier die (in jedoch was), und dem Bezugsnomen, hier Studentinnen. Das deutsche Relativpronomen ist insofern eine (durch die Relativkonstruktion bedingte) Variante des Anaphorikums.
In .c ist als Referent des impliziten Subjekts von träumen das Subjekt von glaubte zu denken. Ebenso ist in als Subjekt von schenken das Subjekt des regierenden Verbs zu denken. In jedoch ist der Referent des Subjekts des Infinitivs das indirekte Objekt des Matrixverbs.
. | Erna überredete Erwin, der Kleinen was zu schenken. |
Ähnlich ist in das Agens von schenken offensichtlich der Referent des direkten Objekts des regierenden Verbs. Die Referenz der leeren Subjektsstelle eines Infinitivs kann also vom regierenden Verb kontrolliert werden. Und zwar funktioniert die anaphorische Kontrolle derart, daß der Referent eines bestimmten Aktanten des Matrixverbs als Referent der Subjektsstelle des abhängigen Infinitivs zu denken ist, deren referentielle Besetzung also insofern “kontrolliert”. Welcher Aktant dies jeweils ist, hängt von der Bedeutung und Valenz des Matrixverbs ab: meist ist es das Subjekt, aber bei manchen Verben wie überreden auch das Objekt.– Anaphorische Kontrolle ist übrigens das wesentliche Kriterium im Definiens des Begriffs ‘Subjekt’.
1 Ursprünglich ist Referenz bloß eine lateinische Lehnübersetzung von griech. Anaphora; beide bedeuten eigentlich bloß “Bezug”. Aber mittlerweile hat die Linguistik doch zwischen Referenz und Anapher zu unterscheiden.