Über Objektivität von Theorie und Methode ist anderswo die Rede. Hier geht es um Objektivität in der sprachlichen Darstellung.
Ein wissenschaftlicher Text handelt von Gegenständen der Wissenschaft, nicht von Wissenschaftlern. Ausnahmen kommen im Zusammenhang mit Wissenschaftsgeschichte und somit – auch in nicht wissenschaftshistorischen Arbeiten – bei der Darstellung des Forschungsstandes vor. Auch bei der Kritik eines einzelnen Werks, z.B. einer Rezension, kommt man manchmal nicht umhin, von dessen Autor zu reden. Im übrigen aber ist es nicht wichtig, was bestimmte Personen gemeint haben, sondern bestenfalls, was in bestimmten Publikationen steht. Man schreibt also nicht
Im Jahre 1973 wies der bekannte Verhaltensforscher Kuno Meyerbeer schlüssig nach, daß Fische nicht in Käfigen gehalten werden können.
sondern
Fische können nicht in Käfigen gehalten werden (Meyerbeer 1973).
Was für andere Wissenschaftler gilt, gilt selbstverständlich auch für den Autor. Was dieser meint, glaubt oder nicht glaubt, früher schon mal gesagt hat usw., ist völlig irrelevant. Subjektive Urteile, gekennzeichnet durch Wendungen wie "meiner Ansicht nach", "ich kann mir nicht vorstellen, daß" u.ä., können keine Argumente ersetzen. Daher schreibt man nicht
Italiener sind besonders disziplinierte Verkehrsteilnehmer. Ich vermute, daß das an ihrer verlängerten Erziehungsperiode liegt.sondern
Italiener sind besonders disziplinierte Verkehrsteilnehmer. Dies liegt wahrscheinlich an ihrer verlängerten Erziehungsperiode.ebenso nicht
wie ich oben zu zeigen versucht habesondern
(s. S. 23)und auch nicht
In Wahrheit ist der gemeine Walfisch gar kein Fisch, wie ich 1973 nachgewiesen habe.sondern
In Wahrheit ist der gemeine Walfisch gar kein Fisch (Lehmann 1973).Die Maxime ist: In wissenschaftlichen Texten bleibt der Autor im Hintergrund.
Erst recht sind Verweise auf den Alleinautor im Plural, vom Typ “wie wir oben dargelegt haben”, im 3. Jt. n.Ch. bestenfalls lächerlich. Dieser Gebrauch der 1. Person Plural wurde ‘pluralis modestiae’ (“Bescheidenheitsplural”) genannt, um zu kaschieren, daß er in Wahrheit eine Form des pluralis maiestatis (“Wir, Friedrich II., von Gottes Gnaden Kaiser von Andorra ...”) war. Nur mehrere Autoren können auf sich selbst mit ‘wir’ verweisen, halt in dem Maße, in dem Autoren überhaupt von sich selbst reden sollten.
Anders zu beurteilen sind pluralische Ausdrücke des Typs “wie wir oben sahen” oder “prüfen wir nun, wie ...”, die nicht den Autor, sondern den Leser meinen. Die Einbeziehung des Lesers ist eine Form der Verlebendigung der Darstellung. Sie ist angebracht in Einführungstexten, die den Anfänger motivieren sollen, sich in eine Thematik einzuarbeiten. In Abhandlungen vom Typ einer Examensarbeit oder eines Handbuchartikels dagegen läuft sie Gefahr, den Eindruck unangebrachter Jovialität zu machen.
Die in wissenschaftlichen Texten nötige Entpersonalisierung kann dem Gebrauch des Passivs und sogar dem Nominalstil Vorschub leisten; denn dieses sind syntaktische und stilistische Mittel, um das Agens – inkl. den Autor – zu unterdrücken. Das ist ein unerwünschter Nebeneffekt der Entpersonalisierung, dem man durch geeignete syntaktische Mittel entgegenwirken muß. Daher ersetzt man
In Kap. 17 versuche ich, dieses Problem zu lösen.nicht durch
In Kap. 17 wird versucht, dieses Problem zu lösen.sondern durch
Dieses Problem behandelt Kap. 17.
Subjektivität gerät auch durch modale Ausdrücke in den Stil. Im Deutschen betrifft das besonders Modalpartikeln und Modalverben. So schreibt man nicht (mit Modalverb)
nämlich darf nicht mit h geschrieben werdenund auch nicht (mit Modalpartikel)
nämlich wird doch nicht mit h geschriebensondern schlicht
nämlich wird nicht mit h geschriebenbzw. ohne Passiv
nämlich enthält kein h.
Aus dem Gesagten folgt schließlich, daß Polemik nicht in einen wissenschaftlichen Text gehört.1 Wer polemisiert, läßt vermuten, daß ihm die Argumente ausgegangen sind. Andere Autoren können noch so unrecht haben; Zielscheibe der Kritik sind nicht die Personen, sondern ihre Texte. Und auch diese werden nur zurückhaltend mit Wertungen bedacht. So schreibt man nicht
Müller (1972:83) irrt sich gewaltig, wenn er Walfische für Insekten hält.
und nicht einmal
Die in Müller 1972:83 vertretene Ansicht, Walfische seien Insekten, ist völlig aus der Luft gegriffen.
sondern schlicht
Walfische sind (entgegen Müller 1972:83) keine Insekten.
bzw.
Walfische sind Säugetiere (anders Müller 1972:83).
Eine wissenschaftliche Abhandlung ist, wie gesagt, ein komplexer Kommunikationsakt mit einer Leserschaft. Die besondere Objektivität wissenschaftlicher Texte bringt es allerdings mit sich, daß die interpersonale Dimension der Kommunikation zugunsten der repräsentativen (oder referentiellen) Dimension zurücktritt. D.h., in wissenschaftlichen Texten ist von dem Gegenstand die Rede, nicht vom Autor und vom Leser.
Man kann jeglichen Text als einen Dialog zwischen Autor und Leser gestalten. Solche Texte zeichnen sich durch Omnipräsenz von Einsprengseln wie dem folgenden aus:
Oben habe ich schon angedeutet, daß Wale vielleicht doch keine Fische sind. Was ist denn nun aber die wahre Natur des Wals? Dieser Frage wollen wir im nächsten Abschnitt nachgehen.
Solcher Stil macht einen Text leichter lesbar, denn er erhöht die Redundanz. M.a.W., diese Stilelemente sind im Hinblick auf die Sache vollständig entbehrlich. Wie immer der dieser Passage vorangehende und folgende Text aussehen mag, er übermittelt notwendigerweise dieselbe Information, wenn man die Passage ersatzlos streicht. Wenn man denn, zur Schaffung von Kohärenz, die Verknüpfung des folgenden mit dem Vorangegangenen explizit machen will, genügt jedenfalls eine Formulierung wie die folgende:
In Kap. 3.1.4 war bereits zweifelhaft geworden, daß Wale Fische sind. Der nächste Abschnitt soll klären, in welche Kategorie sie tatsächlich fallen.
Gewisse Formen der Hervorhebung stellen ebenfalls überflüssige Metakommunikation dar:
Wir möchten an dieser Stelle ausdrücklich bemerken, daß p.
Statt dessen genügt vollständig:
p
Ähnlich schreibt man, wo in englischen Texten “Note that p” steht, in deutschen einfach “p”.
Entsprechendes gilt schließlich, wenn andere Personen als Autor und Leser zu Worte kommen, also etwa in Referaten. Solche sind ohnehin auf das Allernötigste zu beschränken (s.o.). Man macht zu Beginn eines Absatzes, der ein Referat von Schmidt 1998 enthält, einmal explizit, daß dies der Fall ist. Es ist dann nicht mehr nötig, jeden zweiten Satz einzuleiten mit “Schmidt ist der Auffassung ...”, “Ferner meint der Autor ...” usw.; das ist einfach schlechter Stil.
Für den Anfänger ist es sehr schwer zu wissen, welche einer wissenschaftlichen Quelle entnommenen Inhalte als communis opinio gelten können und welche Eigenheiten ihres Autors sind. Sie sind natürlich bei der Wiedergabe ganz verschieden zu behandeln.
Ähnliches gilt für die Notwendigkeit, bestimmte Behauptungen zu beweisen oder mit Beispielen zu erläutern. In all solchen Zweifelsfragen hilft nur noch mehr Lektüre und Diskussion mit fortgeschrittenen Fachleuten. Als Faustregel kann gelten, daß es sicherer ist, weniger Kenntnis als zu viel Kenntnis beim Leser vorauszusetzen.
Voneinander unabhängige wissenschaftliche Werke zum selben Thema unterscheiden sich i.a. in der Terminologie. Referiert man solche Werke, um sie für die eigene Arbeit zu nutzen, muß man die Terminologie vereinheitlichen oder wenigstens systematisieren. Wenn man synonyme Termini stehen läßt, vermutet der Leser, daß sie etwas Verschiedenes bedeuten sollen, und versteht folglich den Zusammenhang nicht.
Ideen müssen demjenigen zugute geschrieben werden, der sie zuerst hatte. Referiert oder zitiert man also eine These, so hat man sicherzustellen, daß man sie nicht einem Autor zuschreibt, der sie seinerseits abgeschrieben hat. Aus diesem Grunde zitiert man übrigens normalerweise auch keine Einführungswerke für Anfänger.
1 “Os trabalhos científicos visam à demonstração fria e objetiva da hipótese e não à comoção do leitor.” (Ruiz 1976:74) (Wissenschaftliche Arbeiten zielen auf den kalten und objektiven Nachweis der Hypothese und nicht auf die Erschütterung des Lesers.)