Der allgemeinste stilistische Gegensatz ist der zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Er bildet ein Kontinuum, auf welchem der wissenschaftliche Text nahe dem Pol ausgeprägter Schriftlichkeit liegt. Das bedeutet, daß alles, was den mündlichen Sprachgebrauch charakterisiert, in wissenschaftlichen Texten unangebracht ist bzw. daß die entsprechenden Funktionen dort entweder überhaupt nicht oder mit anderen Mitteln zu erfüllen sind:
Im folgenden werden einige spezifische Stilmerkmale wissenschaftlicher Texte besprochen und mit einigen Merkmalen von Mündlichkeit kontrastiert, die zu meiden sind.
Schon im alten Rom war variatio delectat “Abwechslung freut” ein Stilideal. Bis auf den heutigen Tag lehren an literarischen Idealen geschulte Deutschlehrer, daß man im Ausdruck abwechseln soll. Und es ist auch wirklich wahr, daß Monotonie im Ausdruck den Leser langweilt und einen unbeholfenen Eindruck auf ihn macht.
Nichtsdestoweniger ist die Forderung nach Wechsel im Ausdruck in wissenschaftlichen Texten stark einzuschränken. Hier kommt es vor allem auf Präzision, Kohärenz und Konsistenz an. Dazu ist es erforderlich, Gleichartiges in analoger Weise zu benennen und zu behandeln und insbesondere dasselbe Ding auch immer auf dieselbe Weise zu bezeichnen. Hypotaxe z.B. ist normalerweise dasselbe wie Subordination und wie Unterordnung; aber wenn in einer syntaktischen Abhandlung diese drei Ausdrücke ohne weitere Erläuterung abwechseln, wird der Leser unsicher, ob der Autor sie nun synonym gebraucht oder einen schwer zu erkennenden Unterschied intendiert. Tatsächlich kann es aus stilistischen Gründen tunlich sein, Synonyme zu verwenden; dann muß man dies explizit machen. Sonst jedoch sollte man sich für einen Terminus entscheiden und bei diesem bleiben.
In Umgangssprache und informellem schriftlichem Stil sind eine Fülle von Phrasen (oder Phraseologismen) üblich, die vor allem zwei Funktionen haben:
Beide Funktionen sollen in wissenschaftlichen Texten nicht erfüllt werden. Hier sind ein paar (in Examensarbeiten vorgefundene) Beispiele von Phrasen, die (spätestens) in wissenschaftlicher Redaktion streng zu kontrollieren, besser auszumerzen sind:
Wie wir in Kap. 3.2 konkret sehen werden, korreliert das Lebensalter positiv mit der Anzahl der Studiensemester.
Das reiche Kasussystem entstand im Grunde genommen nach diesem Prinzip.
Hier soll im Grunde genommen gezeigt werden, was die Kookkurrenzanalyse leistet.
Diese beiden Probleme sind letztendlich nur im Zusammenhang zu lösen.
Wie dies schlussendlich aussieht, kann man an den unten stehenden Beispielen sehen:
Dieses Thema ist dem vorangehenden eng benachbart. Phatisch bedeutet “aufs Reden bezogen”; mit phatischer Kommunikation ist solche Kommunikation gemeint, die lediglich der Herstellung und Aufrechterhaltung des kommunikativen Kontaktes mit dem Partner und der Sicherung von dessen Aufmerksamkeit dient, ohne Inhalt zu übermitteln. Solche Kommunikation hat einen gewissen Wert außerhalb von Wissenschaft. In der Wissenschaft sieht sie so aus wie die folgenden beiden (authentischen) Beispiele.
Der auf eine Beispielserie folgende Absatz beginnt mit folgendem Satz:
Wenn man nun die Beispiele in dieser Serie analysiert, stellt man folgendes fest:
Der letzte Satz vor der neuen Kapitelüberschrift ‘Totale und partielle Interrogation’ lautet:
Aber bevor wir zu den eigentlichen Fakten kommen, empfiehlt es sich, in Kürze darzustellen, was ein totaler und ein partieller Fragesatz ist.
Solche redundante Kommunikation wäre akzeptabel bei der mündlichen Präsentation einer wissenschaftlichen Arbeit. Sie mag auch bis zu einem gewissen Grade in didaktisch orientierten Texten angebracht sein, wo der Lernende durch leichten Gesprächston bei Laune gehalten werden soll. In rein wissenschaftlichen Arbeiten dient sie in erster Linie dazu, Zeilen zu füllen. Sätze wie die beiden Beispiele können ersatzlos gestrichen werden; der Text wird dann dichter, der Leser gewinnt Zeit.
In gesprochener Sprache steht eine große Bandbreite von Mitteln der Hervorhebung zur Verfügung, und sie – bis zu einer vernünftigen Obergrenze – zu nutzen ist unanstößig und hat oft positive Wirkung. Man versucht sie deshalb in solchen schriftlichen Texten, welche der gesprochenen Sprache nahestehen, z.B. Briefen, nachzuahmen. In solchen Texten findet sich daher eine Fülle von Unterstreichungen, Versalien, Sperrung, Fettdruck, Kursivdruck und dergleichen mehr.
In wissenschaftlichen Texten gibt es, wie gesagt, keine Emotionen, und somit fällt ein großer Teil der Motivation für Hervorhebung von vornherein weg. So verständlich auch das Bedürfnis des Autors sein mag, die weltverändernde Bedeutung seiner Beobachtungen und Grundsätze emphatisch hervorzuheben, so nötig ist es in wissenschaftlicher Prosa, dieses Bedürfnis zu unterdrücken und die Fakten für sich sprechen zu lassen. Daher schreibt man statt
Hier ist ein Faktum hervorzuheben, dessen Bedeutung für die Wissenschaft gar nicht hoch genug einzuschätzen ist: p.
besser
p.
Neben den notwendigen sprachlichen Mitteln der Hervorhebung stehen folgende typographische Mittel zur Verfügung:
Unterstreichung stand traditionell in Druckwerken nicht zur Verfügung. Sie diente im Zusammenhang mit Typographie ausschließlich der (handschriftlichen) Symbolisierung von (zu druckendem) Kursivsatz. Seit Typoskripte nicht mehr handschriftlich oder mit der Schreibmaschine abgefaßt werden, ist diese Funktion der Unterstreichung entfallen. Sie wird seitdem gelegentlich anstelle von Sperrung verwendet.
Runde Klammern umschließen ausschließlich Textstücke, welche ohne Schaden für den textuellen und syntaktischen Zusammenhang weggelassen werden können. D.h. der Text muß mit und ohne den eingeklammerten Teil sprachlich korrekt sein. Daraus folgt, daß Klammern nicht zu anderen Zwecken verwendet werden können. In englischen Publikationen werden häufig Nummern eingeklammert, die dem Verweis auf Durchgezähltes dienen, oder Kurzzitierformen als Bezeichner von Werken. Beides ist verwirrend, denn solche Hinweise können im Text optional sein und müßten dann abermals eingeklammert werden, was dann oft nicht geschieht.
Verhältnisse, die zu ihrer kognitiven Bewältigung Wissenschaft erfordern, sind typischerweise komplex. Die Aufgabe der Wissenschaft kann in mancher Hinsicht als Reduktion von Komplexität aufgefaßt werden. Damit ist natürlich nicht eine dem Gegenstand unangemessene Vereinfachung gemeint, sondern eine Herleitung komplexer Resultate aus dem geregelten Zusammenspiel einfacherer Prinzipien.
Dem Ziel, die Welt verständlich zu machen, dient nicht nur die wissenschaftliche Forschung, sondern auch die wissenschaftliche Darstellung. Sie soll so einfach sein, wie der Gegenstand es zuläßt. Dabei muß man zwischen Skylla und Charybdis hindurchsteuern:
Klarheit und Präzision betreffen auf Textebene die Geradlinigkeit der Argumentation, die Illustration von abstrakten Begriffen mit Beispielen, die Veranschaulichung komplexer Zusammenhänge mit Schaubildern usw. Auf Satzebene achtet man u.a. auf folgendes:
Es erfolgt eine Gewinnmaximierung.kann man einfacher schreiben:
Man maximiert den Gewinn.(weitere deutsche Beispiele und ein wunderschönes italienisches Beispiel, allerdings nicht für wissenschaftlichen, sondern für administrativen Stil)
Intelligenz ist vom Geschlecht abhängig.wofür man einfacher sagen kann:
Intelligenz hängt vom Geschlecht ab.
Der Fragebogen wurde nun von uns ausgewertet, ...muß es natürlich heißen
Den Fragebogen werteten wir nun aus, ...Ebenfalls schlechter Stil ist das Passiv von reflexiven Verben. Anstelle von
Hierzu muss sich der HPSG zugewandt werden,heißt es:
Hierzu ist es nötig, sich der HPSG zuzuwenden.Aber auch sonst sind Formulierungen ohne Passiv oft einfacher. Anstelle von
Im Gegensatz zu den bisher genannten Arbeiten, in denen der Gebrauch des Konverbs für die komplexen Prädikate kaum berücksichtigt wird, ...kann man schreiben:
Im Gegensatz zu den bisher genannten Arbeiten, die den Gebrauch des Konverbs für die komplexen Prädikate kaum berücksichtigen, ...
gemäß im 19. Jh. erstmals unter der Leitung schottischer Wissenschaftler durchgeführten Untersuchungenversteht man
gemäß Untersuchungen, die erstmals im 19. Jh. unter der Leitung schottischer Wissenschaftler durchgeführt wurdenbzw.
gemäß Untersuchungen, die erstmals schottische Wissenschaftler im 19. Jh. durchführten
Leider beziehen sich die Werte auf unterschiedliche Schirmhelligkeiten, was die Vergleichbarkeit erschwert. (c't21, 2010:101)Richtig:
Leider beziehen sich die Werte auf unterschiedliche Schirmhelligkeiten, was den Vergleich erschwert.
Daher ist einer der letzten Schritte bei der Redaktion eines wissenschaftlichen Textes die nochmalige Lektüre mit der Zielsetzung “wie sag ich's einfacher?”
Wie man auf logisch-argumentativer Ebene Kohärenz herstellt, ist schon zuvor besprochen worden. Hier geht es nur noch um die sprachlichen Mittel, durch die der Leser erfährt, wie die im Text aufeinanderfolgenden Gedanken aufeinander bezogen sind.
Es versteht sich, daß wissenschaftliche Texte per se unanschaulicher sind als die meisten anderen Textsorten. Das entspricht ihrer Aufgabe und ist insoweit nicht zu ändern. Andererseits verstehen die allermeisten Menschen allgemeine Sätze (Generalisierungen, Gesetzesaussagen, Maximen usw.) besser, wenn sie ein Beispiel dazu bekommen. Empirische und hermeneutische Disziplinen haben ja mit Gegenständen zu tun, die außerhalb des denkenden Subjekts existieren, und auf diese beziehen sich ihre Theorien. Deren Rezipient will anhand von konkreten Fällen sehen, wie genau die Allgemeinaussagen auf den Gegenstand zu beziehen sind. Sogar Philosophen und Mathematiker (als Betreiber nicht-empirischer und nicht-hermeneutischer Disziplinen) würzen ihre Darstellungen häufig mit Beispielen.
Das Beispiel hat übrigens nicht nur eine veranschaulichende Funktion im Sinne leichterer Verständlichkeit des Textes. Es weist auch darauf hin, von welcher Art die Evidenz ist, die nach Ansicht des Autors die These bestätigt, und somit im Umkehrschluß, wie Evidenz aussehen müßte, durch welche die These falsifiziert würde. Das ist der Hauptgrund, warum sich in Disziplinen wie der Linguistik so viel Diskussion an den Beispielen entzündet.
Es ist allerdings zu unterscheiden zwischen Daten und Beispielen. Erstere haben ihre Eigenschaften unabhängig vom Autor und können daher als empirische Evidenz gelten (s. Lehmann 2004). Sie sind immer mit Herkunftsangabe zu versehen. Letztere dagegen dienen lediglich der Verdeutlichung dessen, was der Autor meint. Wenn kein Datum aus dem Gegenstandsbereich zur Hand ist, das diese Funktion optimal erfüllt, kann der Autor ein Beispiel ersinnen. Das kann dann natürlich nicht als empirische Evidenz dienen. Es kann also ein Datum als Beispiel dienen; aber ein Beispiel kann nicht als Datum dienen.
Für die Anführung von Beispielen in einem wissenschaftlichen Text gelten folgende Hinweise:
1 Es kann sein, daß Ihr Browser hier die KAPITÄLCHEN nicht anzeigt, sondern durch VERSALIEN ersetzt. Bei echten Kapitälchen erscheinen Majuskeln wie in normaler Schrift und Minuskeln als Majuskeln einer kleineren Schrift, etwa in der Größe der normalen Minuskeln.
2 Es gibt eine Übungsaufgabe zum Nominalstil.
3 Nicht weiter kommentieren muß man eine Formulierung wie “eine von gebildeten Malayen-Stämmen ungebildet gebliebenen gegebene Benennung” (Humboldt 1836[1972]:4), die außer ihrer unbestreitbaren Grammatikalität keinen Vorzug hat.
4 Das hat nichts mit einem Intelligenzgefälle zwischen Autor und Leser zu tun, sondern liegt lediglich daran, daß der Autor (im günstigsten Falle) weiß, was er meint, während der Leser es herausfinden muß.