Grundsätzliches
Es trifft zu, daß Wissenschaft im modernen okzidentalen Sinne nicht ohne das schriftliche Medium auskommt. Sie aber zur Gänze auf Aktivitäten des Schreibens und Lesens reduzieren zu wollen, wäre eine groteske Fehleinschätzung. Wie bereits auf der Webseite für Studienanfänger, §1.1 erläutert, findet Wissenschaft ganz wesentlich im Gespräch statt. Die Universität bietet dafür verschiedene Typen von Kommunikationssituationen als Rahmen an. Die folgenden sind jedenfalls institutionell gegeben:
- akademische Lehrveranstaltungen, insbesondere Vorlesungen und Seminare
- Projektveranstaltungen und Projektbesprechungen
- Kolloquien, Tagungen und dgl.
- Sprechstunden der Dozenten.
Selbstverständlich gelten je nach dem Rahmen leicht unterschiedliche Regeln. Typischerweise jedoch folgt eine wissenschaftliche Diskussion einem Vortrag eines der Teilnehmer. Dadurch ist von vornherein eine gewisse Asymmetrie gegeben. Daraus schließt mancher, daß der Vortragende die Pflicht hat, zu reden, während alle anderen schweigen dürfen oder müssen. Bereits hier liegt das erste Mißverständnis, das von zahllosen Zeitgenossen vom Abiturienten bis zum Ordinarius genährt wird. Jeder, der sich in einer dieser Situationen befindet, ist Teilnehmer an einer wissenschaftlichen Veranstaltung und daher aufgefordert, dazu etwas Konstruktives beizutragen. Freilich wird man von einem Anfänger eher Fragen, von einem fortgeschrittenen Diskussionsteilnehmer eher hilfreiche Hinweise erwarten. Grundsätzlich aber gelten für alle dieselben Regeln.
Unnötig zu sagen, eine Diskussion ist eine zweiseitige Angelegenheit. Das Verhalten von B wird beeinflußt durch das vorgängige Verhalten von A; und es wird B erschwert, sich an die Regeln zu halten, wenn A das schon nicht getan hat bzw. wenn B schon weiß, daß A das nicht zu tun pflegt. Selbstverständlich ist es zu allererst Pflicht des Vortragenden, dafür zu sorgen, daß das Publikum sich an der Wahrheitsfindung beteiligen kann. Davon handelt ein anderer Abschnitt.
Reden in wissenschaftlichen Veranstaltungen
Für Diskussionsbeiträge zu wissenschaftlichen Veranstaltungen gelten dieselben allgemeinen Kommunikationskonventionen, die auch sonst in abendländischen Gesellschaften gelten. Insofern ist das folgende tendentiell trivial. Da jedoch auch fortgeschrittene Wissenschaftler die Regeln immer wieder mißachten, seien sie für den angehenden Wissenschaftler hier erwähnt:
- Man leistet einen Beitrag zur Lösung eines Sachproblems. Was der Gesprächspartner von sich gegeben hat, mag noch so falsch sein; Gegenstand der Gegenrede ist nicht seine persönliche Unzulänglichkeit, sondern das Sachproblem.
- Man verhält sich konstruktiv. Die Anfangsannahme ist, daß der Mitunterredner versucht, ein wissenschaftliches Problem zu lösen; das Ziel ist, ihm dabei zu helfen. Das gilt erst recht, wenn der Redner selbst zu verstehen gegeben hat, daß er das selbstgestellte Problem noch nicht für gelöst hält, und um Beiträge dazu bittet.
- Hat man den Redner nicht verstanden, kann man genau darüber mit ihm sprechen:
- Das eigene Nichtverstehen durch Verstehen zu ersetzen ist bereits wissenschaftlicher Fortschritt.
- Andererseits kann die Frage dem Redner helfen, seine Gedanken zu klären oder sie so zu formulieren, daß auch solche Hörer sie verstehen, die das vorausgesetzte Vorwissen nicht haben.
- Vor allem aber ist ceteris paribus eine Frage stellen besser als schweigen. Man signalisiert dadurch dem anderen Interesse an dem, was er gesagt hat. Und man stellt eine Rollenverteilung her, wo der Frager der Unterlegene und der Gefragte der Fachmann ist. Eine Frage zu stellen ist also – solange dabei Höflichkeitsregeln befolgt werden – ein freundlicher Akt. Allein das ist ein konstruktiver Beitrag zu gemeinsamer wissenschaftlicher Aktivität.
- Den anderen in der Öffentlichkeit auf Fehler aufmerksam zu machen, ist in wissenschaftlichen Diskussionen (ebenso wie übrigens in Rezensionen) grundsätzlich akzeptabel, bedarf aber selbstverständlich entsprechender Behutsamkeit, da alle die Möglichkeit haben müssen, ihr Gesicht zu wahren. Handelt es sich um offensichtliche Versehen, trägt deren Aufdeckung i.a. nichts zum Ziel in der gemeinsamen Diskussion bei. Man kann sie auf eine Gelegenheit unter vier Augen verschieben. Handelt es sich dagegen um Denkfehler oder Probleme im Argumentationsgang, so ist in der Tat die gemeinsame Diskussion der Ort, sie zu klären. Hat der andere
p
behauptet, möchte man vielleicht ¬p
behaupten. Da man sich aber selbst ebenso irren kann wie der andere, ist es vorsichtig und im Dienste angenehmer Atmosphäre, stattdessen besser zu fragen, wieso eigentlich p
.
- Es ist weithin üblich, als Mitglied des Auditoriums einen wissenschaftlichen Vortrag nicht zu unterbrechen, sondern jegliche Beiträge für die anschließende Diskussion aufzusparen. Das ist ein schlechter Usus. Grundsätzlich gilt stattdessen folgendes:
- Wenn man einen klar identifizierbaren Punkt des Vortrags nicht versteht – z.B. weil man einen Terminus nicht kennt, weil der Vortragende ihn anders verwendet, als man es gewohnt ist, weil er gewisse Vorkenntnisse voraussetzt, die man nicht hat – und absieht, daß man dem Weiteren deshalb nicht wird folgen können, hat es keinen Sinn, die Frage bis nach dem Vortrag aufzuheben.1 Die korrekte Lösung ist vielmehr, den Vortragenden mit einer kurzen Frage zu unterbrechen. Einem Vortragenden, der darauf etwa unwirsch reagiert, mangelt es an Souveränität und Beweglichkeit.
- Jegliche Beiträge, die selbst länger oder gewichtiger sind, auf die der Vortragende ausführlich reagieren müßte oder die eine Diskussion auslösen würden, hat man sich in der Tat aufzusparen. Denn wenn man Einwände gegen die Darstellung hat, so würde sich, wenn man sie äußerte, ein Streitgespräch entspinnen, das den roten Faden und die Geschlossenheit des Vortrags gefährdete.
Schweigen in wissenschaftlichen Veranstaltungen
Die eingangs genannte fundamentale Fehleinschätzung führt zu viel Schweigen und daher zu vielen Monologen in wissenschaftlichen Kontexten. Im Dienste der Wissenschaft ist das jedenfalls nicht.
- Wenn man sich wissenschaftliche Inhalte anlesen muß, sind die Möglichkeiten, das Verständnis zu sichern, begrenzt. Hat man dagegen einen Spezialisten in der Kommunikationssituation, der Hilfe bei der Lösung von Verständnisproblemen anbietet, hat man die Möglichkeit, das eigene Problem zu lösen. Diese Möglichkeit nicht zu nutzen, also in dem Bewußtsein, daß man nicht verstanden hat, weiter zu schweigen, ist – freundliches Kommunikationsverhalten des Vortragenden vorausgesetzt – ein sicheres Symptom mangelnder geistiger und sozialer Beweglichkeit.
- Wenn sie in einem großen Publikum sitzen, kommt für die meisten Menschen bei wachsender Anzahl und Fremdheit der anderen Anwesenden der Punkt, wo sie nicht mehr den Mut haben, das Wort zu ergreifen. Insofern ist es verständlich, wenn Studenten sich in großen Vorlesungen nicht gern zu Wort melden. (Für Professoren auf großen Kongressen gilt tendentiell dasselbe.) Aber
- erstens sitzt man nicht nur in Mammutveranstaltungen, sondern auch in Seminaren und Übungen überschaubarer Größe, wo man nach einigen Wochen die Teilnehmer kennt und wo man die wissenschaftliche Diskussion üben kann
- zweitens sind soziale Ängste dazu da, überwunden zu werden
- drittens kann man, wenn denn die Lehrveranstaltung nicht die geeignete Atmosphäre zur Diskussion zu gewährleisten scheint, in die Sprechstunde des Dozenten gehen.
Wer die Möglichkeiten, seine kognitiven oder kommunikativen Probleme interaktiv zu lösen, nicht nutzt, trägt selbst die Verantwortung dafür.
- Es gibt Leute, welche im schriftlichen Medium durchaus gute wissenschaftliche Leistungen erbringen, zu mündlich ablaufenden wissenschaftlichen Aktivitäten jedoch nichts beitragen. Der Einzelfall einer solchen Aktivität kann selbstverständlich so liegen, daß man gut daran tut, den Mund zu halten. Bei Gastvorträgen, Kolloquien und ähnlichen Veranstaltungen, deren Gelingen von Beiträgen aus dem Publikum abhängt, grundsätzlich beharrlich zu schweigen, ist jedoch kaum noch einer positiven Interpretation fähig. Wer sich so verhält, signalisiert eine negative Einschätzung der stattgehabten Kommunikation und mutet anderen Anwesenden ein erhöhtes Maß an kommunikativem Aufwand zu.
- Nach den in Mitteleuropa geltenden Kommunikationskonventionen ist die Verweigerung der Kommunikation, wenn man persönlich angesprochen wird, – durch Wegsehen, beharrliches Schweigen o.ä. – ein mindestens unfreundlicher, ggf. auch aggressiver Akt. Der Dozent verbucht es als solchen. Erstaunlich viele Studenten machen sich das nicht klar.
1 Anfang 2009 hielt ich vor fortgeschrittenem Publikum einen Vortrag über ‘Wurzeln, Stämme, Wortarten’. Vom ersten bis zum letzten Satz des Vortrags war die Unterscheidung zwischen Wurzel und Stamm – die ich als selbstverständlich voraussetzte – eine elementare Voraussetzung für Sinn und Zweck des Ganzen. Vor dem Vortrag hatte ich ausdrücklich gebeten, mich jederzeit mit Fragen zu unterbrechen. Nach Schluß des Vortrags fragte jemand, was eigentlich der Unterschied zwischen Wurzel und Stamm sei. So etwas darf nicht passieren.