Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit
Sprachliche Kommunikation bedient sich verschiedener Medien, vor allem des mündlichen und des schriftlichen (s. hierzu auch die Website zur Wissenschaftlichen Redaktion, Abschnitt ‘Stil’). Gelegentlich hat man die Wahl zwischen den beiden Medien. In einer akademischen Lehrveranstaltung z.B. kann man entweder ein Referat halten oder eine Hausarbeit schreiben. Auf einem Symposium kann man einen Vortrag halten oder im nachhinein einen Beitrag zu dessen Akten liefern. Die Eigenschaften und Möglichkeiten der beiden Medien sind ganz verschieden:
- Bei mündlicher Rede befinden sich Sender und Empfänger in derselben raumzeitlichen Situation. Der Redner hat also unmittelbaren – auditiven und visuellen – Kontakt mit dem Empfänger. Schriftliche Mitteilung findet auf räumliche und zeitliche Distanz statt. Folglich kann der Sender in mündlicher Rede die Möglichkeiten der Sprechsituation nutzen: Intonation, Gestik, Mimik, Proxemik und alles, was daran hängt, wie Extempores, Ironie, humorige Einlagen, emotionale Ausbrüche usw.
- Mündliche Rede ist vergleichsweise ungeplant und spontan. Sie hat deshalb eine unmittelbarere Wirkung. Sie ist aber auch sprachlich nicht so geschliffen und braucht es dadurch, daß sie die vorgenannten Voraussetzungen einbeziehen kann, auch nicht zu sein. Schriftliche Mitteilung ist geplant und vergleichsweise förmlich. Sie gestattet höhere sprachliche Korrektheit und Komplexität.
Indem man für eines der beiden Medien optiert, macht man sich dessen Vorzüge zunutze und versucht, seine Nachteile zu minimieren.
Auf Veranstaltungen eines gewissen Förmlichkeitsgrades – z.B. im Radio, auf Tagungen, Sitzungen von Organisationen und Behörden, aber auch von Lehrveranstaltungen – kommt eine hybride Form der Mediennutzung vor, nämlich das Verlesen eines schriftlichen Textes. Sie kann im günstigsten Falle die Vorteile beider Medien kombinieren. Daher hat man, wenn man ein Referat hält, folgende Alternative: Man hält einen freien Vortrag oder man liest einen vorformulierten Text ab.
Was zunächst wie eine einfache Alternative aussieht, gliedert sich bei näherem Hinsehen in eine Skala verschiedener Formen des Vortrags:
- Große Redner verfügen u.a. über ein untrügliches Gedächtnis (in der Antike lernten sie ihre Vorträge einfach auswendig) und über die Gabe, aus dem Stand einen logisch geordneten komplexen Gedanken zu fassen und systematisch zu formulieren. Sie vermögen also einen Vortrag in völlig freier Rede zu halten. Die wenigsten haben diese Fähigkeit. Soweit sie nicht eine Gabe ist, kann man sie sich zu einem gewissen Grade antrainieren. Aber das wäre Gegenstand eines Rhetorikkurses und nicht dieser Website. Je weniger jemand über solche Fähigkeiten verfügt, desto mehr hängt er von einer schriftlichen Vorlage ab. Das besagt aber, daß die Wahl zwischen einem freien Vortrag und dem Ablesen eines Textes keine Entweder-Oder-Entscheidung, sondern eine graduelle Angelegenheit ist.
- Der durch einen Notizzettel unterstützte Vortrag ist für den Hörer kaum von einem völlig freien Vortrag zu unterscheiden. Auf dem Notizzettel stehen vielleicht nur die Hauptgliederungspunkte, ein paar Stichworte und solche Versatzstücke wie Zitate und Beispiele, die unbedingt wörtlich überbracht werden müssen. Der Redner benötigt ihn sonst nur, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, wenn er den Faden verloren hat oder sicher gehen will, nichts auszulassen. Einen solchen Vortrag hält man typischerweise, wenn man einen ausformulierten schriftlichen Text so oft gelesen hat, daß man ihn fast auswendig kann, oder wenn man den Vortrag schon mehrmals gehalten hat.
- Der durch eine schriftliche Vorlage – eine Tischvorlage oder eine mediale Präsentation – unterstützte Vortrag wechselt zwischen in freier Rede vorgetragenen Passagen und Elementen, die von der Vorlage abgelesen werden. Von der Tischvorlage ist anderswo die Rede. Hier ist nur wichtig, daß sie dem Redner das Typoskript ersetzen kann. Einen solchen Vortrag hält man typischerweise, wenn einerseits die Hörer eine solche Vorlage benötigen, um folgen zu können, und man andererseits als Redner den Stoff so weit beherrscht, daß man die Gliederung, argumentative Struktur und die Überleitungen zwischen den Elementen der Vorlage aus dem Gedächtnis abrufen und zusammenhängend formulieren kann.
- Der abgelesene Vortrag besteht im Verlesen eines ausformulierten Textes. Auch hier ist es noch möglich, gelegentlich von der Vorlage abzuweichen durch Zwischenbemerkungen und zusätzliche Erläuterungen oder dadurch, daß man Abschnitte überspringt, um den Zeitrahmen einzuhalten. Einen solchen Vortrag hält man typischerweise, wenn man kein Risiko eingehen kann (z.B. in einer Habilitation) oder wenn der Gedankengang so komplex oder die schriftliche Formulierung so schön ist, daß man durch mündlichen Vortrag Wesentliches verlöre, oder einfach wenn man rhetorisch total unbegabt ist.
So trägt man vor
Gleichgültig wie frei oder gebunden man das Referat hält, folgendes gilt jedenfalls:
- Einige Punkte hängen i.w. von der Größe des Publikums sowie den räumlichen und akustischen Gegebenheiten ab:
- Man wählt eine proxemisch angemessene Position zum Publikum. Ein weit abgerücktes Rednerpult oder gar ein Podium schafft von vornherein eine Distanz, die nur bei einem großen Publikum angemessen ist. In diesem Falle ist sie allerdings nötig, sonst ist man im Verhältnis zur aufgewandten akustischen Energie den vordersten Zuhörern zu nahe. Auch muß man in einem ebenen Raum vor einem großen Publikum eine etwas erhöhte Position haben, sonst erreicht man die Hörer der letzten Reihen nicht. Bei einem kleinen Publikum dagegen minimiert man die Distanz und begibt sich am besten “unter die Zuhörer”.
- Man hat sich vor das Publikum entweder zu stellen oder zu setzen. Zu einem kleinen Publikum kann man sich “dazusetzen”. Mit einem großen Publikum kann man sitzend höchstens dann Kontakt halten, wenn man auf einem Podium sitzt. Da man stehend beweglicher und besser zu hören und zu sehen ist, ist von etwa zwei Dutzend Hörern an die stehende Position meist vorzuziehen. Muß man immer wieder an den Tageslichtprojektor oder die Tafel gehen, schafft es Unruhe und Zeitverlust, wenn man das Referat sitzend hält.
- Von denselben Rahmenbedingungen sowie von der Stimmgewalt hängt es ab, ob man ein Mikrophon verwendet. Hat man die Wahl, ist die Rede ohne Mikrophon und Lautsprecher allemal vorzuziehen: Man hängt nicht von den Defizienzen der Technik ab, der akustische Eindruck ist für die Hörer angenehmer, der persönliche Kontakt ist besser, denn die Technik schafft Distanz.
- Man sieht die Zuhörer an, und zwar – da alle zugleich anzusehen keinen persönlichen Kontakt schafft – am besten abwechselnd jeden einzelnen. Daraus folgt, daß man nicht vor dem Publikum hin- und hergeht und erst recht nicht in die Ecke oder gegen die Wand spricht.
Dies letztere passiert typischerweise, wenn der Redner auf die Leinwand blickt, die die Zuhörer ansehen sollen, sei es um selbst seine Präsentation zu sehen, sei es, um an der Leinwand etwas zu zeigen. Es ist besser, statt dessen auf seinen Computerbildschirm zu schauen und zum Zeigen den Cursor zu verwenden.
- Man kontrolliert seine Gestik und Beinarbeit. Einerseits bleibt man nicht stocksteif vor dem Publikum stehen. Man kann ruhig gelegentlich die Position wechseln, um z.B. einem anderen Teil der Zuhörerschaft näher zu sein. Und man untermalt seine Ausführungen mit gemessenen Gesten. Andererseits ist natürlich jede Form von Gehampel zu meiden, weil sie stört und keinen guten Eindruck macht. Dazu gehören ständiges Vor- und Zurückgehen oder auf den Zehen Wippen ebenso wie ausladende oder nichtssagende Gestik.
- Viele junge Erwachsene haben – durchaus verständliche – Schwierigkeiten, zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer förmlichen Kommunikationssituation beizutragen. Denn wer es tut, vermittelt eine gewisse Gesetztheit, die man als junger Mensch nicht unbedingt vermitteln möchte. Aber Studium ist auch das Hineinwachsen in neue soziale Rollen. Daher:
- Ob man umgangssprachliche Wendungen und dergleichen einstreut, ist eine Frage des guten Geschmacks, in der man leicht daneben liegen kann. Erfolgreiche Abweichungen von der Norm setzen sichere Beherrschung aller Register einer Sprache einschließlich ihrer Norm und eine sichere soziale Position voraus. Nur wenige junge Erwachsene verfügen über beides.
- Falls man sitzt, lümmelt man sich nicht auf den Stuhl. (Erfahrungsgemäß benötigen nur männliche Wesen diesen Hinweis.)
Beim freien Vortrag achtet man auf folgendes:
- Man versucht, seinen Stil der schriftlichen Form so weit wie möglich anzunähern.
- Man bemüht sich, seine Sätze grammatisch richtig zu Ende zu bringen. Dieser Punkt wird oft unterschätzt; mancher meint, wenn er frei von der Leber weg drauflosschwatze, komme er besser “rüber”. Tatsächlich ist es für den Hörer äußerst mühsam, wenn er das Gemeinte nur dann verstehen kann, wenn er nebenbei noch die Grammatik des Sprechers in Ordnung bringt; außerdem wirft es kein gutes Licht auf die Fähigkeiten des Sprechers. Jeder, der nicht aus dem Stand komplexe und grammatisch korrekte Sätze zu formulieren vermag, sollte sich mit einfachen Sätzen begnügen. Diese Sorte von Schlichtheit macht keinen schlechten Eindruck. Sie wird nicht einmal als solche bemerkt, und die Hörer werden sie im Gegenteil dem Redner danken, weil sie leichter folgen können.
- Der Vortrag muß unbedingt eine Struktur haben. Freie Rede ist kein Freibrief für unstrukturiertes Gefasel. Man arbeitet also eine Gliederung ab ganz so, wie wenn man einen Aufsatz vorläse. Man macht die Gliederung explizit durch Wendungen wie “So viel war zur Begriffsklärung vorauszuschicken. Ich komme jetzt zur empirischen Bestandsaufnahme”. Hat man etwas Wichtiges vergessen, so gibt man beim Nachtragen den Hörern die Stelle an, wo sie es einfügen müssen.
- Man hält seine Assoziationsgabe im Zaum. Wer einigermaßen beredt ist, dem fällt zu dem, was er sagt, spontan etwas Weiteres ein, was vielleicht unterhaltsam ist und die geistige Beweglichkeit des Redners unter Beweis stellt, was vielleicht aber auch vom Thema ablenkt und verwirrt. Außerdem führen solche Exkurse dazu, daß man seine Redezeit überschreitet.
Auch Vorlesen will gelernt sein:
- Bei den meisten Sprechern ist das Tempo freier Rede von allein dem Auffassungsvermögen der Hörer angepaßt (Abweichungen nach oben und unten kommen natürlich vor). Vorlesen dagegen kann man sehr leicht schneller, als die Hörer zu folgen vermögen. Man spricht daher langsam, laut und deutlich.
- Man meidet Monotonie und verleiht dem Text im Gegenteil die Akzente und die Intonation, die er hätte, wenn er freie Rede wäre. Das kann man natürlich nur, wenn man ihn nicht wortweise abliest, sondern den Sinn des nächsten Satzes im voraus im Bewußtsein hat.
- Man macht Pausen an Sinnabschnitten, also dann, wenn ein Gedanke zu Ende gebracht ist. Wenn man will, signalisiert man der Hörerschaft damit gleichzeitig einen Moment, wo Fragen oder Zwischenbemerkungen angebracht sind.
- Man sieht seine Hörer an; da gilt ganz dasselbe wie im mündlichen Vortrag. Wer beim Ablesen unverwandt auf seine Vorlage starrt, macht sich nicht verständlich, stellt keinen Kontakt zur Zuhörerschaft her und gibt zu wenig schmeichelhaften Vermutungen über seine kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten Veranlassung.
Das Verlesen eines Referats steht in schlechtem Rufe; viele Ratgeber raten unter allen Umständen zum freien Vortrag. Das ist differenzierter zu sehen:
- Es gibt, wie erwähnt, Situationen, wo ein freier Vortrag weder nötig noch angebracht ist. Und jede Zuhörerschaft wird einen gut vorgelesenen Text einem schlecht gehaltenen freien Vortrag vorziehen.
- Die Zeit, die das Verlesen eines Textes dauert, läßt sich sehr genau vorher bestimmen, während mündliche Darstellungen bei den meisten Rednern länger dauern als geplant. Wo strenge Zeitvorgaben herrschen, geht man durch Vorlesen auf Nummer sicher.
- Freies Reden muß man üben; es hat keinen Zweck, am Beginn seiner rhetorischen Karriere einen freien Vortrag zu erzwingen. Man kann ihn schrittweise erlernen, z.B. so, daß man die oben aufgeführten Formen des Vortrags von der vierten bis zur ersten übt.
- Ein mündlich präsentierter und folglich auditiv aufgenommener Text muß eine andere sprachliche Form haben als ein schriftlich präsentierter und folglich visuell aufgenommener Text. Manche Redner – besonders auf Kongressen und in wissenschaftlichen Akademien – präsentieren als mündlichen Vortrag einen Text, den sie außerdem publizieren, vielleicht gar noch mit ciceronischen Perioden und Fußnoten. Das ist eine Zumutung für die Zuhörerschaft. Der Text, der vorgelesen werden soll, muß dem mündlichen Medium angepaßt sein.
- Das Vorlesen eines Textes ist deswegen so verpönt, weil viele Leute sich damit überhaupt keine Mühe geben und glauben, es gehöre weiter nichts dazu als lesen zu können. Wenn man sich an die obigen Hinweise hält, kann ein vorgelesener Vortrag sehr lebendig sein.
Vorbereitung
Aus dem Gesagten folgt, daß man sowohl einen freien als auch einen vorgelesenen Vortrag vorher üben muß. Das Üben zielt vor allem darauf, die Schwächen des jeweils genutzten Mediums zu reduzieren. Daher:
- Vor einem freien Vortrag muß man entweder das Typoskript mehrmals lesen, bis man es fast auswendig kann, oder das freie Formulieren so oft üben, bis ein zusammenhängender, verständlicher und grammatisch korrekter Text zustandekommt.
- Vor einem abgelesenen Vortrag muß man das Typoskript ebenfalls so oft laut lesen, bis man es fast auswendig kann, damit man sich beim Vortrag optisch davon lösen und den Text so präsentieren kann, als hätte man ihn sich soeben ausgedacht. Dazu ist es auch hilfreich, sich Betonungszeichen ins Typoskript zu setzen.
Außerdem nimmt man bei der (monologischen) Probe auch die Zeit. Vom Einhalten des Zeitrahmens ist anderswo die Rede.