1. Leerstellen
Syntagmatische Relationen, insbesondere Dependenzrelationen, sind nicht etwas, was außerhalb der Elemente stünde, die sie eingehen, so daß man eine Konstruktion additiv aus den Elementen und ihren Relationen zusammensetzen könnte. Vielmehr ist die Fähigkeit, gewisse Dependenzen einzugehen, in jedem Element (qua Mitglied seiner syntaktischen Kategorie) angelegt. Man sagt, ein Zeichen (ein Syntagma, eine Wortform, ein Stamm, ein Morphem) enthält eine Leerstelle (oder mehrere), in die ein anderes Zeichen eintreten kann. Eine Leerstelle ist einer Steckdose vergleichbar, die einen Anschluß herzustellen erlaubt. Genauer: Eine Leerstelle ist eine grammatische Eigenschaft eines sprachlichen Zeichens qua Mitgliedes einer grammatischen Kategorie, nämlich die Eigenschaft, eine gewisse grammatische (Dependenz-)Relation (zu anderen Zeichen) einzugehen.
Dies ist eine grammatische Eigenschaft, die ein Zeichen als Element des lexikalischen Inventars besitzt, ähnlich wie ein Substantiv ein Genus hat. Ein sprachliches Zeichen ist (in grammatischer Hinsicht) relational genau dann, wenn es eine Leerstelle enthält. Ein Zeichen kann mehr als eine Leerstelle enthalten.
Die grammatische Relationalität von Zeichen hat grundsätzlich und meist auch im Einzelfall eine semantische Grundlage. Begriffe wie die von Verwandten (Mutter, Bruder usw.), von Körperteilen (Hand, Gesicht usw.), von Raumregionen (Seite, Ecke, Spitze, Boden usw.) sind (semantisch) relational. Ein semantisch relationales Zeichen wird nicht absolut, sondern immer nur in einer gewissen (syntagmatischen) Beziehung zu anderen Zeichen gedacht. Mütter, Hände, Seiten usw. kommen normalerweise nicht isoliert, sondern nur als die Mutter, Hand, Seite von jemand bzw. etwas vor. Eine semantische Leerstelle eines Zeichens heißt auch Argumentstelle. Einer Argumentstelle eines Zeichens ist eine semantische Funktion wie z.B. Agens, Patiens, Possessor usw. zugeordnet. Hierzu s. den Abschnitt zur Partizipation.
Zwischen der semantischen und der strukturellen Relationalität von Zeichen besteht ebensowenig eine 1:1-Beziehung wie zwischen jeglichen semantischen und strukturellen Eigenschaften in der Sprache. Im folgenden wird von der grammatischen Relationalität i.S.v. struktureller Relationalität die Rede sein.
Grammatische Relationalität hat eine Reihe von strukturellen Korrelaten:
Gegeben eine Leerstelle, ihren Träger und ihren Besetzer, so bestimmt die Leerstelle:
- die Richtung der von ihr konstituierten Dependenz, d.h. ob ihr Träger oder ihr Besetzer das abhängige Glied der Relation ist;
- die grammatische (syntaktische) Funktion des abhängigen Gliedes in der Relation;
- durch Selektionsrestriktionen die grammatischen Eigenschaften, bes. die syntaktische Kategorie, ihres Besetzers;
- die Werte bestimmter sekundärer grammatischer Kategorien ihres Trägers und/oder ihres Besetzers;
- die Obligatorietät vs. Optionalität des abhängigen Gliedes der Relation.
Konkretisieren wir die Korrelate der Relationalität mit Bezug auf das Verb in B1.
B1. | Erwin bewunderte Erna. |
1. Die Verbform bewunderte hat (wie alle finiten aktiven Formen von bewundern) zwei rektive Leerstellen. Das unterscheidet sie z.B. von der Form lief, die bloß eine hat, oder von dem Partizip Präsens bewundernd, das ebenfalls nur eine hat.
Beide Leerstellen erfordern Elemente, die von bewunderte abhängen. Das unterscheidet bewunderte z.B. von nahe. Nahe hat auch zwei Leerstellen, eine für das Element y – dem x nahe ist –, welches von nahe abhängt, die andere für das Element x, das nahe ist und das nicht von nahe abhängt, aber von dem nahe abhängen kann, nämlich in dem Syntagma der Laden ↷ nahe der Kirche.
2. Die erste Leerstelle von bewundern erfordert ein Subjekt, die zweite ein direktes Objekt. Das unterscheidet bewundern von abhängen, dessen zweite Leerstelle ein präpositionales Komplement (mit von) erfordert. Die grammatische Leerstelle bestimmt diese Satzgliedfunktionen ihres Besetzers ganz ebenso, wie eine Argumentstelle dessen semantische Funktion bestimmt.1
3. Beide Leerstellen werden von NSen besetzt. Das unterscheidet bewundern von über, dessen erste Leerstelle u.a. von einem VS besetzt sein kann.
Das Subjekts-NS muß belebt sein, und das Objekts-NS muß Eigenschaften haben, die ästhetisch oder moralisch bewertet werden können. Die Subjektsleerstelle von geschehen und die Objektsleerstelle von jagen sind da anders.
4. Die Relationen des Subjekts und direkten Objekts sind ausgestattet mit all den Struktureigenschaften, die sie im Deutschen i.a. haben. Dazu gehören die normale prä- bzw. postverbale Position, Kongruenz des Verbs mit dem Subjekt und die Tatsache, daß das Subjekt im Nominativ und das direkte Objekt im Akkusativ steht.
5. Beide Leerstellen sind obligatorisch besetzt. Das unterscheidet bewundern von jagen, dessen direkte Objektsstelle unbesetzt bleiben kann.
Eine Leerstelle im hier definierten Sinn muß von einer syntagmatischen Position unterschieden werden. Letztere hat man z.B. in Satzbauplänen oder Schablonen, wo links oder rechts von einem strukturalen Nukleus Stellen (engl. slots) vorgesehen sind, in welche Elemente bestimmter Distributionsklassen eingesetzt werden (können). Diese werden gelegentlich ebenfalls Leerstellen genannt. Aus Punkt 4 der vorangehenden Liste ergibt sich, daß eine solche feste syntagmatische Position zu den Korrelaten einer grammatischen Leerstelle gehören kann, aber nicht muß.
Leerstellen |
2. Rektion und Modifikation
2.1. Grundlagen
Rektion und Modifikation sind die beiden Arten von Dependenz (s. allerdings unten wegen einer anderen Konzeption). Sie unterscheiden sich im Sitz der Leerstelle. In dem folgenden Diagramm bezeichnet ein Paar von Schrägstrichen die Leerstelle; der Dependenzpfeil weist wie immer vom Kontrolleur zum Dependenten.
Rektion | Modifikation | |||
X// | Regens | X | Modifikatum | |
↓ | ↓ | |||
Y | Rektum | //Y | Modifikator |
Gegeben eine Dependenzrelation, in der Y von X abhängt,
- so regiert X Y genau dann, wenn X eine Leerstelle für Y enthält (X ist Regens, Y ist Rektum);
- so modifiziert Y X genau dann, wenn Y eine Leerstelle für X enthält (Y ist Modifikator, X ist Modifikatum).2
B2 bietet je ein Beispiel.
B2. | a. | las//↷ Bücher |
b. | lief↷ //schnell |
Ein Rektum heißt auch Komplement. Ist der Kopf der Dependenz ein Verb, so heißt das Komplement auch Aktant, der Modifikator auch Adjunkt oder Zirkumstant.
Näheres zur Unterscheidung von Komplement und Adjunkt im Kapitel zur Valenz.
2.2. Modifikation
Ein Modifikator ist grundsätzlich optional. Da das modifikative Syntagma endozentrisch ist, ist seine Kategorie die des Dependenzkontrolleurs.
[ X | ↷ | //Y ]X |
Ein Beispiel wäre: X = Nom, Y = Adj, wie in [ [ //lange ]Adj ↶[ Nacht ]Nom ]Nom.
Die Konstruktion ist also endozentrisch. Modifikation ist also prinzipiell rekursiv.
Ist das Modifikatum ein Nominal, so heißt der Modifikator auch Attribut;3 ist es ein Verb(al), so heißt er auch Adjunkt.
Ein “adjektivisches” Pronomen, z.B. ein Artikel, Demonstrativum oder Possessivum, determiniert sein Nominal. Falls – wie eingangs angenommen – alle Dependenzrelationen entweder Modifikation oder Rektion sind, fällt Determination unter Modifikation; andernfalls ist sie etwas Drittes, der Modifikation Ähnliches.
2.3. Rektion
Ein Rektum kann optional oder obligatorisch sein. Die Kategorie eines rektiven Syntagmas ist die eines Zeichens, das eine rektive Leerstelle weniger als der Dependenzkontrolleur hat, weil ja das Rektum eine von dessen Leerstellen besetzt.
[ X// | ↷ | Y ]X' |
Ein Beispiel wäre: X = V.tr, Y = NS, X' = V.intr (~ VS; vgl. Konstituentenstrukturregel Nr. 14), wie in [ [ las// ]V.tr↷ [ Bücher ]NS ]V.intr.
Die Konstruktion ist also exozentrisch. Rektion ist also nicht rekursiv; ein Zeichen kann nicht zwei Dependenten in derselben Funktion regieren.
1. | Dependenzanalyse |
3. Kongruenz
Kongruenz ist ein syntaktischer Prozeß, der eine syntaktische oder anaphorische Relation voraussetzt. Kongruenz ist wie folgt definiert:
──── | ↴ | |
A | . . . | [ B k ] |
[k] |
Syntagma B kongruiert mit Syntagma A (in der Kategorie K) genau dann, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:
- Zwischen A und B besteht eine syntaktische oder anaphorische Relation.
- A hat einen Wert k einer grammatischen Kategorie K, und dieser Umstand ist unabhängig vom Vorhandensein oder der Natur von B.
- k ist an B ausgedrückt und bildet ein Syntagma i.w.S. mit B.
In B3 finden sich mehrere Fälle von Kongruenz:
B3. | Mein | Fahrrad | hat | eine | große | Klingel. | Es/Sie | ist | rot | gestreift. |
1. | A1 | A2 | B1/B2 | |||||||
2. | A | B | ||||||||
3. | B | A |
- B ist ein anaphorisches Pronomen, A sein koreferentielles Antezedens, K sind Genus und Numerus, k ist Femininum Singular.
- A ist das Satzsubjekt, B das finite Prädikatsverb, K sind Person und Numerus, k ist 3. Ps. Sg.
- B ist ein Adjektivattribut, A sein Bezugsnomen, K sind Genus, Numerus und Kasus, k ist Akk.Sg.f.
Definitionsgemäß ist Kongruenz asymmetrisch: die Kategorie K ist, semantisch betrachtet, eine Kategorie von A; aber an B wird sie ausgedrückt. Es ist also z.B. bei Nr. 3 falsch zu sagen, das Bezugsnomen kongruiere mit seinem Adjektivattribut, und mindestens ungenau zu sagen, Bezugsnomen und Adjektivattribut kongruierten miteinander.
Kongruenz erscheint in der Leerstelle einer Dependenzrelation oder anaphorischen Relation. Sie verweist auf den Besetzer der Leerstelle dadurch, daß sie sekundäre grammatische Kategorien von ihm angibt. Auf diese Weise trägt sie zur Markierung der betreffenden anaphorischen oder syntaktischen Relation bei.
Bestimmte grammatische Kategorien treten nur bei bestimmten syntaktischen Relationen in der Kongruenz auf:
- Kongruenz in der Person tritt ausschließlich in Rektion auf. Es kongruiert das Regens mit dem Rektum.
- Kongruenz im Kasus tritt ausschließlich in der Modifikation auf. Es kongruiert der Modifikator mit dem Modifikatum.
- Kongruenz in Numerus und Genus tritt sowohl in Rektion als auch in Modifikation auf.
Folglich kann man Kongruenzkategorien methodisch zur Diagnose syntaktischer Relationen nutzen. (weiteres zur Vertiefung)
Kongruenz 1 |
Kongruenz 2 |
1 Die semantischen Korrelate dieser Funktionen sind bei bewunderte die folgenden: Der Subjektsstelle ist die semantische Funktion ‘Experient’ (‘einer, der eine Wahrnehmung erfährt’, engl. experiencer) zugeordnet, und z.B. nicht die eines Agens, wie bei jagen. Das direkte Objekt hat die semantische Funktion eines Themas der Wahrnehmung, das von dem Vorgang weder effiziert (hervorgebracht) noch affiziert (betroffen) wird, wie das für die Objekte von schreiben bzw. verprügeln gilt.
2 Die Termini 'modifizieren' und 'Modifikator' werden gelegentlich auch in einem semantischen Sinne gebraucht. Z.B. modifiziere in dem Syntagma muß kommen das Modalverb das Vollverb (so z.B. Duden Bd. 4, Aufl. 1984). (Vgl. dazu auch den Begriff des semantischen Kopfes.) Ein solcher Begriff von 'modifizieren' ist schwer zu präzisieren und wird in diesem Traktat nicht verwendet. Modifikation in dem oben definierten Sinne liegt in einem solchen Syntagma überhaupt nicht vor; statt dessen regiert das Modalverb das Vollverb.
3 Im Deutschen sind possessive Komplemente schwer von possessiven Modifikatoren zu unterscheiden; s. das Kapitel über syntaktische Funktionen. Deshalb werden oft auch die ersteren unter die Attribute subsumiert, wiewohl das zu Inkonsistenz führt.