Formative und signifikative Subsysteme
Das Sprachsystem setzt Gedanken zu Lauten in Beziehung. Diese Assoziation ist jedoch in mehrfacher Hinsicht indirekt:
- Zum einen kann ein Sprachsystem nicht Gedanken qua nicht-sprachliche psychische Größen und auch nicht Laute qua nicht-sprachliche akustische Größen, sondern es kann nur sprachliche Einheiten miteinander assoziieren. Das sind einerseits Significata und andererseits Significantia. (Zum theoretischen Hintergrund s. den
Abschnitt über Form vs. Substanz.) Daher enthält das Sprachsystem zwei formative Subsysteme:
- In der Semantik wird der Gedanke zu einem Significatum geformt.
- In der Phonologie wird der Laut zu einem Significans geformt.
- Neben diesen formativen Subsystemen steht das signifikative1 Subsystem, welches Significantia und Significata aufeinander abbildet und also Sprachzeichen schafft. Allerdings genügen natürliche menschliche Sprachen dem Erfordernis der Effabilität: in jeder Sprache kann alles gesagt werden, was einem einfällt. Um das zu gewährleisten, zerfällt das signifikative Subsystem seinerseits in zwei Subsysteme:
- Im Lexikon werden fertige signifikative Einheiten gespeichert.
- In der Grammatik werden neue signifikative Einheiten gebildet.
Auf die Sprachzeichen gibt es zwei polar entgegengesetzte Weisen des Zugriffs. Auf idiosynkratische Verknüpfungen von Ausdruck und Inhalt wird ein ganzheitlicher Zugriff genommen; auf regelmäßige Verknüpfungen von Ausdruck und Inhalt wird ein analytischer Zugriff genommen. Idiosynkratische Zeichen sind im Lexikon inventarisiert; regelmäßíge Zeichen werden in der Grammatik gebildet.
idiosynkratisch ganzheitlich |
← |
|
→ | regelmäßig analytisch |
Lexikon und Grammatik
Lexikon und Grammatik – die beiden signifikativen Subsysteme – unterscheiden sich graduell durch den mehr oder minder ganzheitlichen vs. analytischen Zugriff auf Sprachzeichen,2 der im untigen Schaubild die waagerechte Dimension konstituiert. Beide sind durchzogen von den – die Senkrechte des Schaubilds bildenden – Komplexitätsebenen, insbesondere der phrastischen Ebene (vom Syntagma an aufwärts) und der Wortebene.
Grammatik unterhalb und einschließlich der Wortebene ist Morphologie. Grammatik oberhalb der Wortebene ist Syntax.
Lexikologie oberhalb der Wortebene ist Phraseologie.
Der (im Hinblick auf die Assoziation von Significans und Significatum) idiosynkratischste Teil des Lexikons ist das Morpheminventar oder Morphemikon. Der regelmäßigste Teil der Morphologie ist die Flexion. Dazwischen, auf dem Übergang zwischen Lexikon und Grammatik, steht die Wortbildung.
Oberhalb der Wortebene gehören ganzheitlich erfaßte Bildungen in die Phraseologie, regelmäßige in die Syntax. Das folgende Schaubild veranschaulicht die Verhältnisse:
Sowohl Wörter als auch Morpheme können mehr lexikalische Bedeutung oder mehr grammatische Funktion sowie damit einhergehende Distribution haben. An den Polen des Kontinuums befinden sich klare Fälle wie die folgenden:
Domäne Ebene ╲ |
lexikalisch | grammatisch |
---|---|---|
Wort | Zahnpasta | einander |
Morphem | les- | -st (Superlativ) |
Entsprechend redet man von lexikalischen vs. grammatischen Wörtern bzw. Morphemen, auch von Inhaltswörtern vs. Funktionswörtern. Viele Wörter befinden sich in der Mitte des Kontinuums, z.B. neben, tun, einige. Ob sie zu den lexikalischen oder grammatischen Wörtern bzw. Morphemen gehören, hängt davon ab, ob man Kriterien hat, die das entscheiden.
Mehr zum semantischen Aspekt der waagerechten Dimension des Schaubilds im Abschnitt über Kompositionalität.
1 Lat. signifikativ ist gleich griech. semantisch. Daher wird das signifikative System gelegentlich auch das semantische genannt. Aber dann gibt es terminologische Verwirrung mit der soeben anderswo verorteten Semantik.
2 Hinter dieser Formulierung verbirgt sich eine zentrale Problematik der deskriptiven Linguistik. Es ist lange Zeit üblich gewesen, die Grammatik im Zentrum des Sprachsystems und das Lexikon als einen – für die Disziplin relativ uninteressanten – Anhang dazu zu sehen. Eine der ersten Kodifikationen dieser Ansicht ist die folgende:
The lexicon is really an appendix of the grammar, a list of basic irregularities. (Bloomfield 1933:274)