Wie anderswo dargestellt, sind Synchronie und Diachronie zwei alternative Perspektiven auf sprachliche Phänomene. Im Gegenstand selbst zerfallen die Phänomene nicht in zwei Gruppen, synchrone vs. diachrone Phänomene. Ganz im Gegenteil, die Eigenschaften einer Sprache, die kopräsent sind, wenn man einen synchronen Schnitt legt, sind in einer wesentlichen Hinsicht ungleichzeitig: Sie sind zu verschiedener Zeit entstanden bzw. ins System gekommen. Und sie sind in verschiedenen Perioden der Sprache produktiv (gewesen), d.h. in dem synchronen Schnitt sind einige (gerade) produktiv, andere nicht mehr oder noch nicht. Für ihre Funktion und insbesondere ihren Gebrauch in dem gegebenen Zustand – also z.B. auch bei dem Unterfangen, die Sprache zu lernen – macht dies einen enormen Unterschied.
Im heutigen Englisch existiert z.B. eine Opposition zwischen zwei Aspekten, der schlichten vs. der progressiven Form; z.B. sings vs. is singing. Von diesen beiden ist die erstere über das Germanische aus dem Indogermanischen ererbt; die letztere dagegen ist zu historischer Zeit, nämlich im Mittelenglischen entstanden, hat sich im Neuenglischen festgesetzt und ist derzeit voll produktiv. Wieso ist das für das Verständnis des heutigen Englisch relevant? Es bedeutet, daß der Progressiv dabei ist, den schlichten Aspekt zu verdrängen. Selbst in linguistischen Analysen heißt es unter geeigneten Umständen nicht mehr the verb agrees with its subject, sondern the verb is agreeing with its subject. Das kann man nur dann richtig verstehen, wenn man weiß, daß erstens dort auch ohne Anstoß the verb agrees with its subject stehen könnte und daß zweitens die ehemalige markierte Aspektbedeutung des Progressiv derzeit aufgeweicht wird zugunsten einer allgemeineren Bedeutung, wo auf einen spezifischen Fall (hier: “in dem vorliegenden Beispielsatz”) statt auf ein allgemeines Gesetz (“in der englischen Sprache”) referiert wird. In verschiedenen Texten wird der Progressiv entlang dieser Dimension verschieden allgemein verwendet.
Im heutigen Deutschen bestehen mehrere Abstraktionssuffixe nebeneinander, darunter insbesondere das ererbte Suffix -ung und das aus dem Lateinischen stammende Suffix -tion, wie in Umformung und Transformation, aber auch in Klassifizierung und Klassifikation. Ein rein synchroner Blick würde nur sehen, daß die beiden Suffixe zum Teil komplementär verteilt sind, zum Teil (unter Zuhilfenahme von -ier-) in freier Variation stehen. Tatsächlich ist es aber so, daß -ung ursprünglich auf deutsche Stämme beschränkt war; bei einem lateinischen Fremdwort wurde -tion verwendet. Dieses Prinzip wird seit Ende des 20. Jh. aufgeweicht, und es besteht eine Tendenz, Substantive auf -tion durch ihre Pendants auf -ierung zu ersetzen (mehr hierzu in Lehmann 2005, §3.3.1). Die letzteren Bildungen sind also vielfach neumodisch. Die Wahl zwischen den Alternanten ist folglich auch eine Wahl zwischen konservativem vs. modischem Ausdruck.
Mit Bezug auf diese Sachlage spricht man von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von der Diachronie in der Synchronie. Sie besteht so wie dargestellt in allen Sprachen. In Sprachen mit einer schriftlichen Tradition aber verschärft sie sich erheblich. Denn in einem gegebenen Stadium stehen Texte zur Verfügung, die viel früher entstanden sind. Im Extremfall sind sie so alt, daß sie zu dem späteren Zeitpunkt nicht mehr verstanden werden. Dann werden sie manchmal aktualisiert oder übersetzt. Ein klares Beispiel dafür ist die Bibel. Wenn die Texte aber erst vor ein paar Hundert Jahren entstanden sind, gibt es zwar einzelne Verständnisschwierigkeiten, aber im großen und ganzen nimmt man bei der Lektüre die Abweichungen vom derzeitigen Sprachsystem zur Kenntnis und vielleicht als Varianten in seine Kompetenz auf.
Die Kompetenz in einer Sprache hat also eine diachrone Dimension: Ebenso wie ein Sprecher eine Kompetenz in Bezug auf die (dialektalen, soziolektalen und stilistischen) Varietäten seiner Sprache hat, hat er auch eine diachrone Kompetenz. Ebenso wie in den anderen Fällen ist diese natürlich bei verschiedenen Sprechern verschieden ausgeprägt. Sie hängt trivialerweise u.a. davon ab, wie extensiv und intensiv sich jemand mit Texten älterer Sprachstufen konfrontiert. Gute Sprecher haben sogar eine aktive diachrone Kompetenz, können also z.B. altertümlich sprechen und schreiben. Auf diese Weise kann eine sprachliche Eigenschaft, welche zu einem gegebenen Zeitpunkt ausschließlich eine diachrone Variante war, auch wieder eine synchrone Variante werden und dann z.B. eine stilistische Funktion erfüllen.