Stellung der Etymologie

Etymologie genießt in der gebildeten Welt außerhalb und sogar innerhalb der Sprachwissenschaft einen ambivalenten Status. Einerseits wird sie als unterhaltsam und aha-erlebnisträchtig empfunden. Andererseits spielt sie in der heutigen (historischen Sprach-)Wissenschaft keine prominente Rolle, und viele Gebildete (ob Linguisten oder nicht) halten sie für nicht ganz seriös.

Der unterhaltsame, überraschende Einsichten vermittelnde Charakter ist der Etymologie nicht abzusprechen. Dt. Hahn scheint homonym zu sein, da es “männliches Huhn” und “Absperrvorrichtung an Rohrleitungen oder Flüssigkeitsbehältern” bedeutet. Tatsächlich wurde die letztere Bedeutung aber erst im 15. Jh. durch metaphorische Übertragung von der ersteren gebildet, da die Vorrichtung wie ein Hahnenkamm auf ihrem Träger sitzt und sich wie ein Wetterhahn dreht. Die Etymologie von ahd. hano “Hahn” hinwiederum führt auf dieselbe Wurzel, die dem lat. cano “singe” zugrundeliegt. Der Hahn ist also ursprünglich ein Sänger. Solche Geschichten kann die Etymologie zu Tausenden erzählen.

Den Geruch der Unseriosität hat sich die Etymologie bereits in der Antike eingehandelt. Die ersten Etymologien finden sich in Platons Dialog Kratylos (Zusammenfassung und Beispiele). Sie sind fast alle vom heutigen Standpunkt betrachtet unwissenschaftlich. Dasselbe gilt für die Etymologien, die im alten Rom kursierten und von denen die folgende Tabelle eine Kostprobe bietet.

Antike lateinische Etymologien
OriginalBedeutung
1. ex negativo:
bellum quia non est bellum(das Wort) bellum (“Krieg”) (lautet so), weil es nicht schön ist
foedus a non foedo(das Wort) foedus (“Bündnis”) kommt daher, weil es nicht häßlich ist
lucus a non lucendo(das Wort) lucus (“Hain”) (kommt) vom Nicht-Leuchten
2. durch Kontraktion:
cura: cor uritcura (“Sorge”): sie brennt das Herz
fenestra quod fert nos extra(das Wort) fenestra (“Fenster”) (ist verkürzt) aus 'es bringt uns nach draußen'
lepus quia levi-peslepus (“Hase”) wegen Leicht-Fuß
vulpes voli-pes(das Wort) vulpes (“Fuchs”) (kommt von) Fliege-Fuß
caelebs, "caelestium uitam ducens", per b scribitur quod u consonans ante consonantem poni non potest (Priscian inst. 2, 18, 10)caelebs (“Junggeselle”), “das Leben der Himmlischen führend”, wird mit <b> geschrieben, weil konsonantisches /u/ nicht vor Konsonanten gesetzt werden kann.

Solche “Etymogeleien” haben diese Disziplin von Anfang an gründlich in Mißkredit gebracht. Moderne Etymologie hat aber mit solch freier Assoziation nichts zu tun, sondern ist Bestandteil einer durch wissenschaftliche Methode kontrollierten historischen Sprachwissenschaft.

Ziel der Etymologie

Etymologie (von griech. étymos “wirklich, wahr, echt”) ist die Angabe des Ursprungs, genauer die Rekonstruktion der ursprünglichen Zuordnung von Significans und Significatum, die einem Wort (oder einer anderen signifikativen Einheit) zugrundeliegt. Es werden also ein ursprüngliches Significans und ein ursprüngliches Significatum rekonstruiert und ggf. eine Motivation für ihre Zuordnung gegeben. Letztere besteht im einfachsten Falle in einer Wortbildungsregel. Z.B. geht ahd. hano auf germ. *han-an zurück, was eben ein Nomen Agentis ist, das ebenso mittels Suffigierung von *han- “singen” abgeleitet ist wie nhd. Kräh-er von kräh(en).

Das Ziel der Etymologie ist ein mehrfaches. Jede einzelne Etymologie lehrt uns etwas über die innere Struktur der Bedeutung eines Ausdrucks und kann somit auf den Sprachgebrauch zurückwirken. Sie kann auch Begriffe und Sachen vergangener Stufen einer Kultur klären. Gemeinsam sind die Etymologien Bausteine zur Rekonstruktion sämtlicher Eigenschaften eines Sprachsystems, die mit dem Morphem bzw. Lexem verbunden sind; und das sind die meisten. Jede Etymologie festigt den Ansatz eines Lautsystems oder falsifiziert ihn, bietet ein Beispiel für eine Wortbildungsregel oder vervollständigt ein Wortfeld. Der Ansatz von phonologischen, morphologischen und lexikalischen Systemen in Ursprachen findet nicht in abstracto statt, sondern hängt vollständig davon ab, daß es hinreichend viele Etymologien gibt, über welchen er eine induktive Verallgemeinerung darstellt. Freilich setzt jede einzelne Etymologie auch eben jene phonologischen und morphologischen Gesetze voraus; darauf kommen wir sogleich zurück.

Methode der Etymologie

Was unterscheidet nun wissenschaftliche von unwissenschaftlicher Etymologie? Es ist, wie auch sonst, die (wissenschaftliche) Methode. Das Erkenntnisinteresse der Etymologie ist es, die ursprüngliche Motivation eines Ausdrucks festzustellen. Dies wird dadurch befriedigt, daß man Regeln angibt, nach denen der Ausdruck gebildet ist, d.h. nach denen die Struktur des Significans der Struktur des Significatums entspricht. Diese Regeln sind von zweierlei Typ:

  1. Ist der Ausdruck morphologisch komplex, sind es Wortbildungsregeln.
  2. Ist der Ausdruck monomorphematisch, kann er noch durch Onomatopöie oder Lautsymbolik motiviert sein.

Solche Regeln – vor allem die des ersten Typs – sind Regeln einer bestimmten Sprache bzw. eines bestimmten Sprachstadiums. Der Ausdruck, dessen Etymologie zu machen ist, gehört seinerseits einer bestimmten Sprache bzw. einem bestimmten Sprachstadium an. Die Frage ist also, nach Regeln welcher Sprache bzw. welchen Sprachstadiums der zu etymologisierende Ausdruck gebildet ist. Hierfür gilt folgende rekursiv anzuwendende Entscheidungshierarchie:

  1. Der Ausdruck ist synchron nach Regeln des ersten oder zweiten obigen Typs motiviert.
  2. Der Ausdruck ist nicht nach Regeln des Sprachstadiums, dem er angehört, motiviert.
    1. Der Ausdruck ist einer anderen Sprache entlehnt.
    2. Der Ausdruck ist ererbt.

Im Falle 1 ist die Etymologie des Ausdrucks an diesem Punkte schon am Ende, und man nennt diese Analyse dann auch gar nicht Etymologie. Z.B. ist die Frage nach dem Ursprung des Wortes düngen dadurch beantwortet, daß es ein mit Umlaut vom Substantiv Dung abgeleitetes Ornativum ist. (Alles weitere s. s.v. Dung.)

Im Falle 2 ist die Wortgeschichte des Ausdrucks zu machen:

Im Falle 2.a ist die Quelle der Entlehnung anzugeben. Die Frage nach dem Ursprung des Wortes Violine wäre insoweit dadurch beantwortet, daß es im 17. Jh. von ital. violino entlehnt wurde.

Im Falle 2.b stellt man in historischen Dokumenten fest, seit wann das Wort belegt ist, wie seine frühest belegte Form gelautet und was es bedeutet hat. Die Frage nach dem Ursprung des Wortes Dung wäre insoweit dadurch beantwortet, daß es auf ahd. tunga (f.) “Düngung” zurückgeht, aber offensichtlich mit ahd. tung (m.) “unterirdische, oben mit Dung bedeckte Kammer” kontaminiert ist.

In beiden Fällen der Kategorie 2 läßt sich von der gefundenen Vorform wiederum die Etymologie machen, indem man wieder oben in die Entscheidungshierarchie einsteigt. Im Falle 2.a wäre das die Etymologie des italienischen Wortes violino, im Falle 2.b die der althochdeutschen Wörter tunga und tung.

Das Spezifikum der Etymologie zeigt sich in der rekursiven Anwendung des Verfahrens auf Fälle der Kategorie 2.b. Die Geschichte und Vorgeschichte des zu etymologisierenden Ausdrucks wird nämlich so lange zurückverfolgt, bis dasjenige Sprachstadium erreicht ist, nach dessen Regeln – Typ i oder ii – er gebildet ist. Das kann ein historisch belegtes Stadium sein, so wie in den hier gleich folgenden Beispielen gebären und -halber. Es kann aber auch sein, daß die Struktur eines Ausdrucks selbst in dem frühest belegten Sprachstadium nicht durchsichtig ist. Dann setzt hier die Rekonstruktion an, so wie in dem danach besprochenen Beispiel acht.

Die Etymologie von dt. gebären z.B. wird sonach wie folgt gemacht: Es geht zurück auf ahd. giberan, selbe Bedeutung. Dieses hinwiederum ist von dem gleichzeitig existenten Simplex beran “tragen” (vgl. engl. bear) abgeleitet, und zwar als terminatives Verb durch Präfigierung mit ge-, so wie gerinnen “zu Ende rinnen” von rinnen. Seine Grundbedeutung ist also “zu Ende tragen, austragen”.

In neuhochdeutschen Wörtern wie innerhalb, unterhalb, deshalb, allenthalben, meinethalben, krankheitshalber tritt ein Stamm halb auf, der nicht mehr selbständig vorkommt, aber offensichtlich so etwas wie “Seite” und “wegen” bedeutet, denn meinethalten = meinetwegen, krankheitshalber = wegen Krankheit und unterhalb = an der Unterseite. Hiervon macht man zunächst die Wortgeschichte und stellt fest, daß der Stamm sogar im Frühneuhochdeutschen noch als selbständiges Substantiv Halbe “Seite, Gegend” auftritt. Das Substantiv läßt sich bis ins Althochdeutsche zurückverfolgen, wo ebenfalls halba (f.) “Seite” existiert. Dem entsprechen altnord. halfa und altengl. healf, die beide “Seite, Hälfte” bedeuten. (Der weitere indogermanische Anschluß dieses Stamms ist unsicher.) Die neuhochdeutsche Bedeutung “wegen” ist jedenfalls sekundär; sie ist aus der Bedeutung “Seite” in Kollokationen wie meinethalben nach dem Muster von meinerseits entstanden.

Die Wortgeschichte ist eine historische Disziplin im strikten Sinne des Wortes, schließt also die Vorgeschichte aus. Oft ist auch die früheste belegte Form im System des Sprachstadiums, dem sie angehört, nicht durchsichtig. In dem Fall wird nun die Wortgeschichte nach den Prinzipien der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, nämlich mit Methoden der inneren Rekonstruktion, des historischen Vergleichs und der Rekonstruktion, nach rückwärts verlängert. Sie wird also mit Formen historisch verwandter Sprachen verglichen, und durch Anwendung der Lautgesetze wird eine diesen gemeinsame Urform rekonstruiert.

Z.B. ist die frühest belegte Form von nhd. acht ahd. ahto. Dies ist jedoch ebensowenig durchsichtig wie die moderne Form, d.h. es ist nicht nach althochdeutschen Wortbildungsregeln gebildet. Nun zieht man got. ahtau, lat. octo, altgriech. oktō (alle “acht”) usw. zum Vergleich heran. Durch reversive Anwendung bekannter Lautgesetze rekonstruiert man daraus idg. *oktō(w) “acht”. Dies ist nun letztlich die “Etymologie”, genauer: die etymologische Urform, des deutschen Wortes acht. Eine solche Etymologie reduziert sich allerdings auf die Wortgeschichte und Wortvorgeschichte und entbehrt die wesentliche Komponente der Motivation durch Angabe der Bildungsweise. In diesem und zahlreichen anderen Fällen läßt sich allerdings nicht mehr herausbekommen.

Bei der Rekonstruktion der Urform werden die bis dahin bekannten relevanten Lautgesetze und (im günstigsten Falle) Gesetze des semantischen Wandels rückwärts angewandt. Im zuletzt genannten Beispiel etwa verträgt sich das postulierte anlautende /o/ mit dem vorhandenen germanischen /a/, weil das Lautgesetz 'idg. /o/ → germ. /a/' aufgrund unabhängiger Evidenz völlig gesichert ist. Entsprechendes gilt für die anderen Unterschiede. Jede zu machende Etymologie muß also mit etablierten Verallgemeinerungen kompatibel sein. Aber wie schon gesagt, basieren diese natürlich ihrerseits auf solchen Etymologien. Z.B. basiert das genannte Lautgesetz auf zahlreichen Entsprechungen des Typs ‘ahd. ahto ~ lat. octo’. Insofern herrscht hier das auch sonst in der Linguistik bekannte Hin- und Hergehen zwischen Deduktion und Induktion.

Literatur

Untermann, Jürgen 1975, "Etymologie und Wortgeschichte." Seiler, Hansjakob (ed.), Linguistic workshop III. Arbeiten des Kolner Universalienprojekts 1974. München: Fink (Structura, 9); 93-116.