Abschließend ist das Verhältnis des semantischen Wandels zur synchronen und diachronen Variation zu beleuchten.
Metapher und Metonymie sind beide definiert worden als die Hinzunahme eines zusätzlichen Sinns zur Gesamtbedeutung eines Ausdrucks. Entsprechendes gilt auch für die zuvor besprochene Bedeutungsverallgemeinerung und Bedeutungsverengung und überhaupt jeglichen semantischen Wandel. Oft bleibt freilich am Ende des diesbezüglichen Sprachwandels nur die abgeleitete Bedeutung (die ja die später geschaffene ist) übrig. Dann sieht es so aus, als bestünde der Wandel im Ersatz der alten durch die neue Bedeutung.
Die spätere Bedeutung ersetzt aber die frühere nicht von heute auf morgen.
Wenn man den semantischen Wandel analysiert, ist es also nicht Ersatz, sondern erst Variation, dann Auslese bzw. Verdrängung.
Es gibt keine universalen Gesetze des semantischen Wandels, die der Gesetzmäßigkeit des phonologischen und grammatischen Wandels vergleichbar wären. Der semantische Wandel hängt, im Gegensatz zu diesen, stark von der Situation der Sprache, also den kulturellen, sozialen usw. Verhältnissen der Sprachgemeinschaft ab. Die Semantik reagiert auf Wechsel in diesen Sphären, die ziemlich kurzfristig sein können, empfindlicher bzw. empfänglicher als die anderen Komponenten des Sprachsystems. Insbesondere können die faktischen Zusammenhänge, auf denen Metonymien basieren, stark von zeitgebundenen sozialkulturellen Verhältnissen abhängen. Im Ergebnis kann sich dann die spätere Bedeutung eines Zeichens stark von seiner ursprünglichen Bedeutung unterscheiden. Wenn man die Stufen der Entwicklung kennt, kann man zwei benachbarte vermutlich immer unter ein geläufiges Prinzip semantischen Wandels wie eben die in §§4.2 – 4.4 eingeführten subsumieren. Kennt man aber, wie es in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft häufig der Fall ist, nur die Enden dieser Kette, so scheint manchmal kein Weg vom einen zum anderen zu führen. Hier sind einige englische Beispiele solcher Entwicklungen (aus Baldi & Page 2006, §A.1):
In den genannten vier Fällen sind die Bindeglieder der Kette historisch bekannt, so daß erstens über die historische Kontinuität kein Zweifel besteht und zweitens der semantische Wandel jeweils nachvollziehbar ist. Hätte man jeweils nur das englische Wort und das zugehörigen lateinische Grundwort, würde wohl jegliche Etymologie scheitern.
Da solche Verhältnisse im historischen Vergleich nicht selten sind, ist die semantische Seite der Etymologie viel schwerer zu kontrollieren als die phonologische und morphologische. Daher werden gelegentlich auch semantisch waghalsige Etymologien wissenschaftlich akzeptiert, wenn nur diese letzteren Aspekte in Ordnung sind.
Baldi, Philip & Page, [Review of Vennemann, Theo 2003, Europa Vasconica – Europa Semitica.] Lingua 116:21832220.