Umfang dieses Metapädeutikums
Das deutsche Abitur gewährt den Zugang zum Hochschulstudium. Das impliziert, daß der Abiturient über gewisse Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, die ihn von einem Nicht-Abiturienten unterscheiden. Sie werden bei der Gestaltung der Lehrpläne der Hochschule vorausgesetzt. Bestimmte Hochschulfächer wie z.B. Linguistik und die Philologien nehmen auf bestimmte dieser Voraussetzungen Bezug. Dieses grammatische Metapädeutikum ist Teil des größeren Unternehmens, den Stand der linguistischen Kenntnisse und Fähigkeiten, die bei Aufnahme eines Studiums eben dieser Fächer vorausgesetzt werden, zu definieren.
Die gymnasialen Lehrpläne sehen verschiedenartige linguistische Inhalte vor. Ein Teil davon betrifft das Sprachsystem, also Phonologie und Semantik, Grammatik und Lexikon. Im Zentrum des Sprachsystem steht die Grammatik. Die vorliegenden Materialien widmen sich überwiegend der Grammatik und behandeln die anderen Bereiche des Sprachsystems nur, insoweit sie für das Reden über Grammatik vorausgesetzt werden.
Die Zielsetzung dieser Materialien ist also eher definitorisch als didaktisch. Die gegebenen Definitionen, Erläuterungen und Beispiele reichen für die Einübung der aktiven Beherrschung der behandelten Begriffe nicht aus. Dazu ist die angegebene Literatur beizuziehen, die auch Übungsaufgaben anbietet.
Die grammatische Begrifflichkeit, die beim Abitur vorausgesetzt wird, und die zugehörigen Termini sind von der KMK im «Verzeichnis grundlegender grammatischer Fachausdrücke» (Vereinbarung der Kultusministerkonferenz vom 26.02.1982) festgelegt worden, das einen gewissen Grad an Verbindlichkeit hat. Die in diesem Metapädeutikum vorgenommenen Abweichungen sind folgende:
- Um einen Zusammenhang herzustellen, werden einige zusätzliche Termini eingeführt.
- Ein paar Termini des Verzeichnisses, insbesondere solche, die die Orthographie betreffen, wurden weggelassen.
- In einigen Fällen wurde die Terminologie des Verzeichnisses auf den aktuellen Stand gebracht.
Terminologie
Die heute in der abendländischen Welt gebräuchliche grammatische Terminologie geht auf die lateinische Schulgrammatik zurück, die erstmals von den Römern bereits vor Christus formuliert wurde. Die Begriffe wurden zuerst von den griechischen Grammatikern für ihre Sprache gebildet, dann von den Römern für das Lateinische angepaßt und seitdem auf Hunderte von Sprachen angewandt und vielfach modifiziert. Die Termini allerdings sind bis heute die lateinischen. Lediglich in der deutschen Germanistik, und insbesondere in der deutschen Schulgrammatik, ist es weithin üblich, die lateinischen Termini zu verdeutschen, also z.B. Eigenschaftswort statt Adjektiv zu sagen.1
Die Motivation hinter diesem Bemühen ist im günstigsten Falle eine gut gemeinte pädagogische: man will dem Kinde das Sprechen über Grammatik erleichtern. Die - nachgewiesenen - Nachteile dieses Verfahrens überwiegen jedoch die - nicht nachgewiesenen - Vorteile bei weitem:
- Die deutschen Entsprechungen sind als Wörter um nichts leichter zu lernen oder zu handhaben als ihre lateinischen Vorbilder. Es ist ja schließlich nicht so, als wäre der Deutsche nicht imstande, Fremdwörter zu benutzen. Oft sind die Verdeutschungen sogar verwirrend, wie etwa Fall anstatt Kasus.
- Die Kinder lernen Termini, mit denen sie außerhalb ihrer Deutschstunde nichts anfangen können, weil der Rest der Welt - z.B. bereits der Englischlehrer - nicht so redet.
- Tempus ist in Wahrheit nicht dasselbe wie Zeit, Genus ist nicht dasselbe wie Geschlecht, und so in fast allen anderen Fällen. (Das gilt selbstverständlich in anderen Sprachen ebenso: engl. tense ist nicht dasselbe wie time, gender ist nicht dasselbe wie sex usw.) In der Wissenschaft bezeichnen nur die jeweils ersten Termini grammatische Kategorien, und es kommt gerade darauf an, deren Verhältnis zu den Begriffen der jeweils letzteren Ausdrücke zu klären (mehr dazu in §3). Die Verwendung der letzteren Termini anstelle der ersteren verunmöglicht die Unterscheidung; d.h. den Kindern wird etwas Falsches beigebracht, was später gar nicht so leicht zu korrigieren ist.
- Man koppelt die grammatische Terminologie, die im Deutschen benutzt wird, von der des Restes der Welt ab. Internationalisierung wissenschaftlicher Terminologie ist aber ein vernünftiges Ziel.
Aus diesen Gründen werden in diesem Kurs ausschließlich die lateinischen Termini verwendet. Die Verdeutschungen werden nur zu dem Zweck zusätzlich angegeben, daß derjenige, welcher sie bereits kennt, die Gleichsetzung mit den korrekten Termini vornehmen kann. Die Verdeutschungen sind nicht zu lernen.
Für die lateinischen Termini werden gelegentlich ihre morphologischen Eigenschaften, insbesondere Genus und Deklinationsklasse, angegeben, da hierüber weithin, sogar im Duden, Unsicherheit herrscht.
Grammatische Kategorien
Auf dem Niveau der Schulgrammatik können die grammatischen Kategorien nicht ordentlich definiert werden, weil dies ziemlich viel Linguistik voraussetzt. Sie werden deshalb in erster Linie “ostensiv” eingeführt, d.h. durch Beispiele verdeutlicht.
Grammatische Kategorien wie z.B. Numerus oder Präteritum sind erstens grammatische Kategorien und zweitens Kategorien einer bestimmten Sprache.
- Das erstere besagt u.a., daß es keine Bedeutungskategorien sind. Oft wird versucht, grammatische Kategorien durch ihre Bedeutung zu definieren, nach dem Muster “die Bedeutung des Genitivs ist die Beziehung des Besitzes”. Das kann nicht gelingen (im Falle des Musters stimmt es z.B. nicht für den Genitiv in im Falle des Musters), weil grammatische Kategorien nur teilweise durch Bedeutungsmerkmale, vor allem aber durch ihre strukturellen Eigenschaften definiert sind. In dem Maße, in welchem in den Kapiteln 3 und 4 einige Kategorien doch ansatzweise definiert werden, ist also zu berücksichtigen, daß die Kategorie zwar auf bestimmten Bedeutungsmerkmalen basieren kann - so wie z.B. Tempus durchaus auf Zeit basiert -, daß dies aber nicht bedeutet, daß sie dadurch restlos bestimmt ist. Sonst wäre ja gestern ein Mitglied der Kategorie ‘Tempus’. Das ist gerade deswegen nicht so, weil gestern bestimmte Struktureigenschaften nicht hat, die für das deutsche Tempus gelten.
- Das letztere besagt, daß eine bestimmte grammatische Kategorie wie z.B. Genus in einer Sprache, z.B. Deutsch, vorhanden sein und in einer anderen, z.B. Englisch, fehlen kann. Man kann grammatische Kategorien auf einem gewissen Abstraktionsniveau unabhängig von Einzelsprachen konzipieren. Sie sind aber jedenfalls in jeder Sprache – soweit überhaupt vorhanden – in besonderer Weise ausgeprägt.
Paradigmen
Eine grammatische Kategorie nimmt verschiedene Werte an. Die Werte der Kategorie ‘Genus’ sind z.B. ‘maskulinum, femininum, neutrum’. Die Flexion eines Wortes nach einer bestimmten Kategorie wird systematisch so dargestellt, daß man das Wort in einer traditionell bestimmten Reihenfolge die Werte dieser Kategorie annehmen läßt. Man veranschaulicht das durch ein Beispielwort. Wenn man nur die Flexion nach einer einzigen Kategorie darstellt, ergibt sich eine Repräsentation in Form einer eindimensionalen Matrix, z.B. so:
Genus | Beispiel |
---|---|
maskulinum | armer |
femininum | arme |
neutrum | armes |
Illustriert man die Flexion nach zwei Kategorien gleichzeitig, ergibt sich eine Darstellung in Form einer zweidimensionalen Matrix, z.B. so:
Numerus Person ╲ | Singular | Plural |
---|---|---|
1. | liebe | lieben |
2. | liebst | liebt |
3. | liebt | lieben |
Ursprünglich nannte man nur eine solche illustrative Darstellung ein Paradigma. Heute ist ein Paradigma allgemein die Menge der Flexionsformen (einer bestimmten morphologischen Kategorie), die ein Wort einer bestimmten Wortart und morphologischen Klasse annimmt. D.h. der moderne Begriff des Paradigmas ist abstrakter, weil nicht an ein Beispielwort gebunden.
Syntagmen
Es gibt sprachliche Einheiten verschiedener Art und verschiedenen Umfangs. Einheiten derselben Art werden in Äußerungen nicht einfach aneinandergereiht wie Perlen auf einer Schnur. Z.B. besteht die Lautform /je:na/ nicht einfach aus vier aneinandergereihten Lauten, sondern sie besteht aus den beiden Silben /je:/ und /na/. Jede dieser Silben besteht aus zwei Lauten, von denen der erste ein Konsonant und der zweite ein Vokal ist; und das könnte nicht andersherum sein. Es werden also größere sprachliche Einheiten aus kleineren aufgebaut. Die komplexen Einheiten haben eine Struktur, die z.T. darin besteht, daß ihre konstitutiven Einheiten (d.h. die sie bildenden kleineren Einheiten) bestimmten Kategorien angehören und in der komplexen Einheit bestimmte Funktionen (z.B. den Silbenanlaut) übernehmen.
B1. | Die Polizei – dein Freund und Helfer. |
Ebenso ist B1 nicht einfach eine Reihe von sechs Wörtern. Zunächst einmal zerfällt es in zwei Teile, Subjekt und Prädikat genannt. Und das Prädikat ist dann noch einmal komplex. Wir verstehen nämlich, daß dein sich nicht nur auf Freund, sondern auch auf Helfer beziehen soll. Man kann das so darstellen:
[ dein [ Freund und Helfer ] ]
Das besagt: Freund und Helfer bildet ein Syntagma (~
Wortgruppe). Dieses Syntagma wird mit dem Wort dein (in einer
bestimmten Funktion) zu dem größeren Syntagma dein Freund und Helfer
kombiniert (die Struktur ist also nicht
Kontext
Sprachliche Einheiten treten normalerweise nicht in Isolation, sondern im Rahmen einer größeren Einheit auf, in welcher ihnen andere sprachliche Einheiten vorangehen und noch andere folgen. Das, was neben einer gegebenen Einheit im Text steht, ist ihr Kontext. So ist der unmittelbare Kontext von die in B1 das Wort Polizei. Genauer:
die steht im Kontext [ __ Polizei ],
wo der Unterstrich die Position des in Rede stehenden Elementes im Kontext und die eckigen Klammern die relevante größere Einheit – hier das nominale Syntagma, welches im Beispielsatz Subjekt ist – bezeichnen.
Den sprachlichen Kontext braucht man auch, um die Bedeutung von Ausdrücken wie ihnen im ersten Satz dieses Abschnitts konstruieren zu können. Man versteht, daß ihnen sich hier auf sprachliche Einheiten im vorangehenden Teilsatz bezieht.
Angenommen jedoch, Erna und ich stehen auf dem Markt, in einiger Entfernung geht Erwin in seiner typischen Haltung vorbei, und ich sage zu Erna mit einer auf Erwin deutenden Kopfbewegung Er wieder! Der Ausdruck er kann in deutschen Äußerungen alles mögliche bezeichnen. Dadurch, daß Ernas Blick meiner Kopfbewegung folgt, versteht sie, worauf der Ausdruck sich in dieser Äußerung bezieht. Das Bezeichnete erfährt sie in diesem Falle nicht aus dem sprachlichen Kontext, sondern aus der Sprechsituation. Man spricht hier auch vom außersprachlichen Kontext einer Äußerung.
1 Dieser Parochialismus der Germanistik ist in vieler Hinsicht schädlich. Z.B. goutieren der Duden einschließlich des Schülerdudens die Ausdrücke Dativobjekt und Akkusativobjekt (s. den Abschnitt über Syntax wegen der korrekten Termini). Die Leidtragenden sind dann die Schüler, deren Deutschlehrer ihnen einen solchen Unsinn beibringen.