Eine Art von paradigmatischen lexikalischen Relationen besteht nicht zwischen Begriffen, sondern zwischen Zeichen einer Sprache. Wie wir sogleich sehen werden, lassen sich einige dieser Relationen alternativ als Eigenschaften sprachlicher Ausdrücke auffassen. Diese Eigenschaften und Relationen beruhen darauf, daß bestimmte Significantia und Significata so und nicht anders miteinander assoziiert sind. Es sind also nicht, wie die onomasiologischen Relationen, Relationen zwischen (sprachunabhängigen) Begriffen. Daraus folgt, daß man nicht erwartet, zu einem N-Tupel von Lexemen, die eine derartige paradigmatische lexikalische Relation zu einander haben, eine Entsprechung in einer anderen Sprache zu finden.
Zu den paradigmatischen lexikalischen Relationen in semasiologischer Perspektive zählen die folgenden:
Zwei Sprachzeichen, die dasselbe Significatum haben, sind (miteinander) synonym; zwischen ihnen besteht die Beziehung der Synonymie. Das operationale Kriterium vollkommener Synonymie ist die unbedingte freie Variation, also die Austauschbarkeit in allen Kontexten ohne Bedeutungsunterschied. Es folgen einige Beispiele:
Substantiv | Gilde | Innung |
---|---|---|
Mumps | Ziegenpeter | |
Briefträger | Postbote | |
Schornsteinfeger | Kaminkehrer | |
Ranzen | Tornister | |
Setzei | Spiegelei | |
Verb | entgegnen | erwidern |
Adverb | bisher | bislang |
einstweilen | vorerst/vorläufig | |
inzwischen | mittlerweile/derweil | |
mithin | sonach | |
mittlerweile | unterdessen | |
überdies | zudem | |
Konjunktion | bevor | ehe |
obgleich | obwohl |
In der Sprache gilt allerdings überwiegend das Prinzip ‘verschiedener Ausdruck - verschiedener Inhalt’. Deshalb neigen die Sprecher dazu, mit zwei Wörtern, die synonym sein könnten, verschiedene Bedeutungen zu assoziieren oder sie mindestens verschieden zu verwenden. Es folgen einige eher problematische Beispiele:
B1. | a. | Meßdiener | – | Ministrant |
b. | Trecker | – | Traktor | |
c. | Samstag | – | Sonnabend |
So wird etwa ein Fremdwortgegner die Wörter Ministrant und Traktor meiden. Und umgekehrt wird jemand, dem Fremdwörter nicht völlig geheuer sind, vermuten, ein Traktor sei etwas besseres als ein Trecker, und entsprechend bei Ministrant und Meßdiener. Deshalb ist es schwierig, vollkommene Synonyme zu finden. Z.B. haben verläßlich und zuverlässig dieselbe Bedeutung; aber es besteht eine Tendenz, verläßlich nur auf Menschen anzuwenden, zuverlässig jedoch auch auf Maschinen. Somit stehen sie nicht in freier Variation.1 Zwischen anderen Synonymen bestehen leichte Stilunterschiede. So gehört sowieso der Umgangssprache, ohnehin der Schriftsprache an. Andere mögliche Synonyme wie Samstag – Sonnabend oder Fleischer - Metzger - Schlachter sind über verschiedene Dialekte verteilt. Der Sprecher hat also nur gelegentlich die freie Wahl; häufiger ist seine Wahl Bedingungen verschiedener Art unterworfen (s. zur Variation).
Andere Wörter sind überhaupt nicht grundsätzlich synonym, sondern lediglich in bestimmten Kontexten ohne Bedeutungsunterschied austauschbar.
B2. | a. | Wir fuhren mit dem Fahrstuhl/Aufzug in den dritten Stock. |
b. | Die Krankenschwester schob den Patienten im Fahrstuhl in den OP. | |
c. | Emil kam in einem unmöglichen Aufzug zur Party. | |
B3. | Ich gehe mal eben zum Automaten und kaufe/hole mir eine Schachtel Zigaretten. |
So sind Fahrstuhl und Aufzug beide mehrdeutig und kommen mit einigen ihrer Bedeutungen in Kontexten wie B2.b und c vor, wo sie nichts miteinander zu tun haben. Einen ihrer Sinne allerdings haben sie gemeinsam, und in bezug auf den sind sie synonym, wie B2.a zeigt. Kaufen und holen haben recht verschiedene Bedeutung; aber in vielen Kontexten, wie B3, kann man holen ohne Bedeutungsunterschied für kaufen einsetzen, nämlich wenn sich die Bezahlung aus dem Kontext versteht. Wir können also unterscheiden zwischen totaler Synonymie und Synonymie in einem bestimmten Kontext. Im letzteren Falle redet man auch von Teilsynonymie. Diese ist grundlegend bei der Konstruktion von Synonymenwörterbüchern. Weiteres zur Synonymie anderswo.
Fazit: Ein Ausdruck A1 ist mit einem Ausdruck A2 synonym, gdw sie dieselbe Bedeutung haben.2
Ambiguität (Mehrdeutigkeit, wörtlich allerdings "Zweideutigkeit") ist die Eigenschaft eines sprachlichen Zeichens, mehrere alternative Interpretationen zuzulassen. Es handelt sich um eine sprachsystembasierte semantische Eigenschaft, im Unterschied zu der unten zu besprechenden Vagheit. Die Wörter in B4 sind mehrdeutig (ambig ist kein deutsches Wort).
B4. Flügel, Tafel
Ein Flügel kann ein Körperteil, ein Teil eines Gebäudes, ein Musikinstrument, eine Gruppierung in einer Partei u.v.a.m. sein. Eine Tafel kann u.a. eine Schreibfläche, eine Tischoberfläche oder eine rechteckige Konfiguration von Schokolade sein. Diese Aufzählung alternativer Bedeutungen ist allerdings unbefriedigend. Unsere Sprachkenntnis sagt uns, daß die Bedeutung "Gruppierung in einer Partei" für Flügel der Bedeutung "Teil eines Gebäudes" semantisch näher steht als z.B. der Bedeutung "Musikinstrument". Wir müssen also verschiedene Arten der Ambiguität unterscheiden und dabei insbesondere darauf achten, den Fall, wo zwei auf einen Ausdruck bezogene alternative Bedeutungen in überhaupt keine semantische Beziehung gebracht werden können, von dem Fall zu unterscheiden, wo die alternativen Bedeutungen Gemeinsamkeiten haben.
B5. | a. | Pflaster, Tor, Ton |
b. | leerer/Lehrer, dichter/Dichter | |
c. | Tenor, übersetzen |
Die Wörter in B5 haben gemeinsam, daß mit einem gegebenen Ausdruck völlig verschiedene Bedeutungen assoziiert sind. Diesen Fall nennt man Homonymie (wörtl.: "Gleichnamigkeit").
Im Prinzip läßt sich Homonymie konzipieren entweder als eine Eigenschaft eines Ausdrucks oder als eine Relation zweier Zeichen. Die beiden Konzepte wären so zu definieren:
Nach der ersten Definition wäre der deutsche Ausdruck Tor homonym, denn er hat die beiden nicht aufeinander bezogenen Bedeutungen “Narr, unbedachter Mensch” und “große Tür bzw. großer Eingang”. Entsprechend der zweiten Definition enthält z.B. das deutsche Wörterbuch zwei Einträge:
Die zweite Definition ist sowohl theoretisch angemessen als auch, wie man an dem Wörterbuchbeispiel sieht, die praktisch meist befolgte. Für die unten fällige Abgrenzung von Polysemie und Homonymie wird jedoch auch die erste gebraucht.
B5.b zeigt Wörter, die zwar ihren phonologischen, nicht aber ihren graphematischen (schriftlichen) Ausdruck gemeinsam haben. Homonyme, die ihren phonologischen Ausdruck gemeinsam haben (wie die in B5.a und b), heißen homophon.
B5.c zeigt Wörter, die zwar ihren graphematischen, nicht aber ihren phonologischen Ausdruck gemeinsam haben (die Beispielwörter werden verschieden akzentuiert). Homonyme, die ihren graphematischen Ausdruck gemeinsam haben (wie die in B5.a und c), heißen homograph. Wenn in der Linguistik von Homonymie die Rede ist, ist allermeist Homophonie gemeint, da Homographie (ohne Homophonie) außerhalb der Graphematik kaum interessiert.
Schließlich ist auf eine Art von Homonymie aufmerksam zu machen, die nicht an Lexikoneinträgen haftet. Es ist die syntaktische oder strukturelle Mehrdeutigkeit, die Beispiele wie Du kannst das Eis im Kühlschrank essen oder Erna erblickte den Mann mit dem Fernglas aufweisen, wo entweder Erna oder der Mann das Fernglas hat. Hier ist ein komplexes Zeichen (ein Satz) mehrdeutig, obwohl es kein mehrdeutiges Wort enthält; stattdessen kann der Satz auf zwei alternative Arten syntaktisch konstruiert werden. Im Unterschied zu allen vorigen Beispielen haben solche Ausdrücke also zwei syntaktische Strukturen. Daher ist für die Auflösung dieser Art von Mehrdeutigkeit die Syntax zuständig.
B6. | a. | Stein, Birne, Schreiben, kalt, Leitung, Holzschuppen |
b. | engl. linguistic "sprachlich; linguistisch" |
Die Wörter in B6 haben alternative Bedeutungen, die in einem für den Muttersprachler nachvollziehbaren Zusammenhang stehen. Diesen Fall von Mehrdeutigkeit nennt man Polysemie (wörtl.: "Vieldeutigkeit"). Ein sprachliches Zeichen ist polysem gdw. es mehr als eine Bedeutung hat. Die alternativen Bedeutungen eines polysemen Zeichens heißen auch seine verschiedenen Sinne oder "Lesungen" (engl. readings). Derselbe Zusammenhang zwischen den alternativen Bedeutungen kehrt oft in anderen Wörtern des Lexikons wieder. Z.B. findet sich dieselbe Polysemie wie in Leitung (Nomen actionis vs. Nomen agentis) auch in Regierung, Verwaltung u.v.a. D.h. die Vereinigung der alternativen Bedeutungen auf ein Zeichen ist im Falle der Polysemie nicht zufällig.
Polysemie entsteht durch Schaffung abgeleiteter Bedeutungen auf der Basis einer Grundbedeutung. Die wichtigsten semantischen Prozesse, die solche abgeleiteten Bedeutungen schaffen, sind
Sie werden im Abschnitt über semantischen Wandel behandelt.
Rein definitorisch besteht der Unterschied zwischen Homonymie und Polysemie darin, daß man im ersteren Falle mit zwei Zeichen zu tun hat, die homonym sind, im letzteren Falle jedoch mit einem Zeichen, das polysem ist. Dem entspricht in der geläufigen Anordnung von Wörterbüchern, daß Homonyme je einen eigenen Eintrag haben, während polyseme Wörter einen einzigen Eintrag haben, unter welchem ihre verschiedenen Bedeutungen aufgeführt sind. Z.B. (vereinfacht):
Für den in der Definition postulierten Unterschied benötigt man Kriterien. Diese sind prinzipiell entweder synchroner oder diachroner Natur. Seit Beginn der Sprachwissenschaft bis weit ins 20. Jahrhundert waren die Kriterien, wie auch in zahlreichen anderen Fällen, diachroner (bzw. historischer) Art. Zwei Zeichen wurden homonym genannt, wenn sie ursprünglich sowohl in Significans als auch in Significatum verschieden gewesen waren, ihre Significantia dann jedoch durch phonologischen Wandel zusammenfielen. Dies trifft z.B. auf Ton zu, das in der ersten Bedeutung ein germanisches Erbwort, in der zweiten jedoch ein gräko-lateinisches Lehnwort ist. Polysemie wäre dagegen der Fall, daß sich aus einer ursprünglich einheitlichen Grundbedeutung eines Worts abgeleitete Bedeutungen entwickelt haben, wie das am Beispiel Birne klar nachzuvollziehen ist.
Diese Konzeption hat zwei Nachteile. Erstens gehört das Wissen um sprachgeschichtliche Zusammenhänge (die diachrone Kompetenz) nur in begrenztem Maße zur normalen Sprachbeherrschung. Wäre also das historische Kriterium das einzige, würden nur historische Linguisten stets Polysemie von Homonymie unterscheiden können; anders gesagt, es wäre keine in einer synchronen Beschreibung relevante Unterscheidung. Zweitens können sich durch semantischen Wandel auch zwei alternative Bedeutungen eines Worts so weit auseinanderentwickeln, daß kein Zusammenhang mehr zwischen ihnen empfunden wird. Dies dürfte für Pflaster und einige Bedeutungen von Flügel und Absatz gelten. Das historische Kriterium ist also wenn auch vielleicht hinreichend, so doch jedenfalls nicht notwendig.
In synchroner Analyse wird man zum Ausdruck bringen wollen, daß zwischen den Bedeutungen eines polysemen Worts ein Zusammenhang besteht, zwischen denen von homonymen Wörtern jedoch nicht. D.h., für ein polysemes Wort läßt sich eine Gesamtbedeutung angeben, die für alle Gebräuche gilt, wenn diese auch in verschiedenem Maße von ihr abweichen. Für die Bedeutungen von homonymen Ausdrücken dagegen gibt es keine Gesamtbedeutung, eben weil Homonymie etwas Zufälliges ist.
Ob also in einem gegebenen Fall Homonymie oder Polsysemie vorliegt, kann man erst aufgrund einer fertigen semantischen Analyse entscheiden. Entscheidend ist das Maß, in dem die alternativen Bedeutungen gemeinsame semantische Merkmale haben. Hieraus wird deutlich, daß der Unterschied zwischen Homonymie und Polysemie nur ein gradueller sein kann. Zwei Wörter können z.B. ein paar semantische Merkmale gemeinsam haben, wie etwa die beiden Pflaster oder die beiden Schloß; aber diese werden möglicherweise nicht ausreichen, um Polysemie zu diagnostizieren. Homonymie und Polysemie sind also prototypische Begriffe, deren klare Fälle die Pole eines Kontinuums bilden, auf dem es einen Übergang mit unklaren Grenzfällen gibt. Daher darf es nicht verwundern, wenn es dazwischen keine binären Entscheidungskriterien gibt.3
Ein heuristisch nützliches Kriterium zur Unterscheidung von Polysemie und Homonymie ist der Sprachvergleich. Das Kriterium beruht auf folgender Idee: Da jeder Fall von Homonymie ein Zufall ist, ist es nicht anzunehmen, daß derselbe Zufall sich in einer anderen Sprache wiederholt. M.a.W., wenn wir in einer Sprache ein homonymes Wort sehen, erwarten wir nicht, daß eine andere Sprache einen Ausdruck haben wird, der in derselben Weise homonym ist. Polysemie dagegen kommt durch die Anwendung semantischer Operationen auf Zeichen zustande. Das sind Operationen wie Metapher und Metonymie, und die sind universal. Das besagt zwar nicht, daß in jeder Sprache dieselben Operationen auf übersetzungsäquivalente Zeichen angewandt werden. Aber dies ist mindestens möglich; und daher kann man erwarten, daß ein polysemes Wort einer Sprache in einer anderen Sprache in einem ähnlich polysemen Wort eine Entsprechung finden wird.
Hat man folglich ein mehrdeutiges Wort und sucht Anhaltspunkte für eine Entscheidung zwischen Polysemie und Homonymie, so kann man es in andere Sprachen übersetzen und sehen, ob seinen alternativen Bedeutungen dort auch jeweils derselbe Ausdruck entspricht. Betrachten wir nach diesem Kriterium noch einmal dt. Ton vs. kalt:
Das Ergebnis dieses – wenn auch stark verkürzten – Tests ist, daß dt. Ton in den beiden relevanten Bedeutungen homonym ist, während kalt polysem ist. Aber wie eingangs gesagt, dieses ist lediglich ein heuristisches Kriterium. Es beruht nämlich auf Übersetzungsäquivalenz; und die ist theoretisch problematisch.
Schließlich kann ein gegebenes Significans zu einem polysemen Zeichen gehören, das gleichzeitig mit einem anderen Zeichen homonym ist; d.h. zwischen den diversen mit einem Significans assoziierten Significata können teils Homonymie- und teils Polysemierelationen bestehen. So entspricht das Significans Ton den beiden oben angegebenen Zeichen. Gleichzeitig ist aber Ton2 noch polysem, da es nicht nur "Klang", sondern z.B. auch "Umgangsform" bedeutet. Ähnliches gilt für Flügel.
Mehrdeutigkeit ist in erster Linie eine lexikalische Eigenschaft sprachlicher Zeichen. In aktuellem Gebrauch wird sie meist zugunsten einer der alternativen Bedeutungen aufgelöst; der Kontext disambiguiert das Zeichen. So wird etwa in den Ausdrücken eine Uhr mit 16 Steinen, der rechte Flügel der FDP die Mehrdeutigkeit von Stein und Flügel aufgelöst. Zu den im Kontext gegebenen semantischen Merkmalen paßt nur eine der alternativen Merkmalmengen des mehrdeutigen Zeichens; die anderen sind damit inkompatibel.
Freilich gibt es auch Fälle, in denen eine lexikalische Mehrdeutigkeit im aktuellen Gebrauch erhalten bleibt. In dem (gesprochenen) Satz
Der neue Professor /le:rt/ einen Semantikkurs innerhalb von zwei Wochen.
reicht der Kontext nicht aus, um zwischen lehrt und leert zu disambiguieren. Dies ist natürlich eine wesentliche Basis für Wortspiele und alle Arten von Zweideutigkeiten.
Jeder Muttersprachler ist in der Lage, eine Mehrdeutigkeit durch alternative Paraphrasen aufzulösen. Dabei kann man
Es können also nicht nur Wörter, sondern auch größere Sprachzeichen wie z.B. Sätze mehrdeutig sein. In dem gerade besprochenen Beispiel ist die Mehrdeutigkeit des Satzes darauf zurückzuführen, daß er zwei mehrdeutige Wörter enthält (auch Semantikkurs kann sich auf den Inhalt oder auf die Belegschaft beziehen). Das ist in der Lexikologie der einzig interessierende Fall. Falls der Satz dagegen mehr als eine Struktur hat, liegt der oben schon erwähnte Fall struktureller Mehrdeutigkeit vor.
Ein sprachliches Zeichen kann auch alternative Interpretationen haben, die nicht durch das Sprachsystem vorgesehen sind.
B7. Person, essen, rot, Hügel
In den meisten Kontexten, in denen die Wörter aus B7 verwendet werden, bleiben Fragen offen. Wenn etwa ein Mann zu seiner Ehefrau sagt
Gestern abend hatte ich im Büro Besuch - eine wirklich reizende Person.
wird die Ehefrau vielleicht finden, daß das Wort Person mindestens zwei Interpretationen zuläßt, zwischen denen die Wahl hier offenbleibt. Wenn wir hören
Sie aß ihren Teller mit Widerwillen leer.
wissen wir nicht, ob sie den Teller leergelöffelt oder dazu Messer und Gabel oder die Finger benutzt hat. Der Satz
Mein neues Auto ist rot.
läßt offen, welche Teile des Autos wirklich rot sind und gibt auch nur eine ungefähre Ahnung von der Farbe des Autos. Schließlich ist der Bedeutungsunterschied zwischen Hügel und Berg nicht normiert, so daß verschiedene Sprecher die Grenze womöglich verschieden ziehen. Ein sprachlicher Ausdruck ist vage in dem Maße, in dem er inhaltlich unvollständig ist, in dem also Information nicht gegeben wird. Gelegentlich läßt sich die fehlende Information als eine Menge von Merkmalen beschreiben, die der vage Ausdruck weniger hat als ein spezifischerer Ausdruck. Z.B. ist Person vager als Frau, insofern Frau das Merkmal weiblich zusätzlich hat. Ähnliches gilt für essen vs. löffeln oder für rot vs. karminrot. Insoweit ist Vagheit mit Hyperonymie verknüpft. Andererseits ist Vagheit eine Eigenschaft von allen prototypischen Begriffen (wie ‘rot’ und ‘Hügel’), insofern bei deren Gebrauch immer offen bleibt, wie weit der Referent von dem Prototypen abweicht.
Vagheit läßt sich ebenso wie Ambiguität im Einzelfall entweder bewußt einsetzen oder durch Zugabe weiterer Information reduzieren. Ein vager Ausdruck hat aber nicht eine endliche Menge alternativer Bedeutungen, die durch das Sprachsystem gegeben sind; jeder Ausdruck ist in dem Maße vage, als er ungenau, nicht hinreichend informativ ist. Daher ist Vagheit nicht systematisch, d.h. nicht in Lexikon oder Grammatik, beschreibbar. Sie wird meist in die Pragmatik verwiesen.
Als ein Kriterium zur Unterscheidung von Ambiguität und Vagheit kann der Einbau des zu testenden Ausdrucks in ein Zeugma dienen (das ist eine Konstruktion, in der ein mehrdeutiges Wort in verschiedenen seiner Bedeutungen auf die Glieder einer koordinativen Konstruktion bezogen ist). Um z.B. festzustellen, ob die alternativen Interpretationen von einschlagen und sich (etwas) nehmen Fälle von Ambiguität oder Vagheit sind, können wir Zeugmata wie die in B8 konstruieren.
B8. | a. | Er schlug erst dem Krause die Fensterscheibe und dann den Nachhauseweg ein. |
b. | Sie nahm sich noch eine letzte Praline und anschließend das Leben. |
Ergibt sich ein Zeugma, also ein semantischer Effekt wie in B8, so liegt Ambiguität vor; gelingt es nicht, solch ein Zeugma zu konstruieren, liegt Vagheit vor. Z.B. kann man für die angeführten alternativen Interpretationen der Wörter von B7 kein Zeugma konstruieren.
Sowohl von der Ambiguität als auch von der Vagheit ist die nicht festgelegte Referenz zu unterscheiden. Solange ein sprachlicher Ausdruck nicht in einer Sprechsituation als Äußerung verwendet, sondern lediglich als Gebilde des Sprachsystems betrachtet wird, hat er per definitionem überhaupt keine Referenz.4. Z.B. ist der Ausdruck mein Freund nicht mehrdeutig. Er ist zwar vage (je nachdem, welchen Grad der Intimität die Bezeichnung Freund impliziert); aber das hat mit der Referenzfestlegung nichts zu tun. Der mit dem Ausdruck Gemeinte, eben sein Referent (Erwin oder Fritz usw.), ist völlig offen, bevor er in einer Sprechsituation in einer Äußerung verwendet wird (und selbst dann kann er noch offen sein). Dieses ist (evtl. mit der in der Fußnote erwähnten Ausnahme) überhaupt bei allen sprachlichen Ausdrücken so und deshalb nicht, wie Ambiguität, eine semantische Eigenschaft bestimmter Ausdrücke.
1 Wenn sie in komplementärer Verteilung stehen, sind sie im Prinzip auch synonym, abgesehen eben von den verschiedenen Selektionsrestriktionen.
2 gdw: “genau dann, wenn”. Dies ist der Äquivalenzjunktor ↔, der die Gleichsetzung von Definiendum und Definiens ausdrückt in dem Falle, daß beide Sätze sind.
3 Während diese methodische Situation klar aus der Theorie folgt, tröstet dies freilich den Lexikographen nur wenig, der sich für eine der beiden zuvor illustrierten Repräsentationen entscheiden muß.
4 Es gibt sprachliche Ausdrücke, für die es nur ein einziges Denotatum gibt – bestimmte Eigennamen wie Aldebaran. Der Referent ist dann notwendigerweise immer eine mentale Repräsentation dieses Denotatums. Aber er entsteht per definitionem erst in einem Redeuniversum.