Ein Satz und eine Äußerung können, was den Wortlaut betrifft, koextensiv sein. Sie werden auch in linguistischen Texten i.a. in gleicher Form notiert, nämlich in Kursivsatz (oder manchmal, wenn sie als Zitate behandelt werden, in Anführungszeichen). Daher kann es manchmal schwierig sein, die beiden Begriffe auseinanderzuhalten. Sie sind jedoch auf verschiedenen theoretischen Ebenen angesiedelt, und alle zwischen ihnen bestehenden Unterschiede hängen damit zusammen.
- Eine Äußerung kann aus mehr als einem Satz bestehen; z.B. die Äußerung Du hast wohl 'nen Vogel! Bist du noch ganz bei Trost?
- Der Satz ist eine (die höchste) Einheit der Syntax1. Die Äußerung ist eine Einheit eines Textes. (Ebenso wie Text ist auch Äußerung in linguistischer Terminologie unempfindlich für das Ausdrucksmedium [mündlich, schriftlich usw.]) Es ist also ungenau, zu sagen, ein Text bestehe aus Sätzen.
- Disziplinär betrachtet, ist folglich der Satz Gegenstand der Syntax und Semantik,2 die Äußerung dagegen Gegenstand der Pragmatik.
- Der Satz ist eine Einheit des Sprachsystems (und also der ‘langue’), die Äußerung eine Einheit der ‘parole’. Diese Unterscheidung birgt das schwierigste Problem. Denn die meisten Sätze gehören nicht zum Inventar, sondern werden aus Elementen des Inventars nach Regeln gebildet. Die Unterscheidung erfordert also, daß man alles, was auf diese Weise gebildet werden kann, unabhängig davon, ob es irgendwann wirklich verwendet wird, auch zum System rechnet. Da die Syntax nicht von tatsächlich vorgekommenen Sätzen, also Äußerungen, handelt, sondern eben von Sätzen als Einheiten der Grammatik, nennt man diese manchmal zur Sicherheit Systemsätze. Der Terminus erinnert daran, daß der Begriff des Satzes ein erhebliches Maß an Abstraktion involviert: man kann Sätze, streng genommen, weder hören noch sehen, noch kann man ihren Sinn mit Bestimmtheit angeben (vgl. #8).
- Eine Äußerung ist eingebettet in eine bestimmte Sprechsituation, mit Redeuniversum, Kontext, Weltwissen usw. Sie fungiert dort als sozial relevante Handlung und kann gemäß dem Sprechakt, den sie realisiert, klassifiziert werden. Ein Satz dagegen ist isoliert. Er gehört zwar einem Satztyp an; aber dieser determiniert nicht eindeutig die Sprechakte, die man mit ihm ausführen kann.
- Gemäß der Unterscheidung von System vs. Text ist der Satz virtuell, die Äußerung aktuell. Der Satz ist ein ‘type’, die Äußerung ein ‘token’.
- Der Satz kann, als Einheit der Syntax, in mehrerer Hinsicht
unterspezifiziert sein. So kann einerseits phonetische Information fehlen, und zwar sowohl segmentale als auch insbesondere suprasegmentale. D.h. es ist möglich, einen Satz mit verschiedenen Akzentmustern und Intonationskurven zu versehen, was natürlich den Sinn beeinflußt. Und andererseits kann semantische Information fehlen. Denn ein Satz kann nur mit solcher semantischer Information versehen sein, die aus dem Sprachsystem ableitbar ist. Solche Disambiguierung, die den Kontext, die Sprechsituation usw. verwendet, findet im isolierten Satz nicht statt.
Allerdings ist die Unterspezifikation eine graduelle Angelegenheit. Es ist einerseits möglich, einen Satz für prosodische Merkmale zu spezifizieren; und andererseits kann man z.B. Polysemie disambiguieren, indem man Sätze des Kontextes berücksichtigt. - Semantisch betrachtet, hat ein Satz eine Bedeutung, eine Äußerung jedoch einen Sinn (s. Bedeutung vs. Sinn). Wie in #7 gesagt, ergibt sich die Bedeutung eines Satzes (überwiegend analytisch) nach Regeln aus den Bedeutungen seiner Bestandteile, so wie sie inventarisiert sind. Der Sinn einer Äußerung dagegen ergibt sich (überwiegend ganzheitlich) im Sprechhandlungszusammenhang einer Sprechsituation. (Vgl. Kompositionalität vs. Ganzheitlichkeit.)
Die Linguistik versucht teilweise, die Beziehung zwischen Satz und Äußerung so zu fassen, daß “Sätze in Äußerungen verwendet werden”,3 und behandelt diesen Vorgang i.S.v. #7 als eine Spezifikation. Der Linguist bildet also einen Satz und spezifiziert zu diesem eine Sprechsituation, in der er als Äußerung verwendet wird, folglich auch einen Kontext, ein Akzent- und Intonationsmuster und alles weitere bis zu dem Grade, den er braucht, um systematisch über Äußerungen reden zu können. Gelegentlich (Levinson 1983:18f) wird das so formuliert: eine Äußerung ist ein Paar aus einem Satz und einer Sprechsituation. Methodisch betrachtet heißt dies freilich, das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen. Denn als Daten stehen der Linguistik nur Äußerungen zur Verfügung, aus denen sie Sätze abstrahieren kann.
1 qua Teil des Sprachsystems
2 qua wissenschaftlicher Disziplinen
3 Die Anführungszeichen sind nötig, weil dieser Ansatz so tut, als würde irgendeine Instanz in den Sprachteilhabern in einem ersten Schritt Systemsätze erzeugen, und in einem zweiten Schritt würden sie sich erst überlegen, was sie damit machen können. Wenn Systemsätze irgendeinen empirischen Bezug haben sollen, dann können sie in Wahrheit nur eine Abstraktion a posteriori aus vorgekommenen Äußerungen sein.
Levinson, Stephen C. 1983, Pragmatics. Cambridge: Cambridge University Press (Cambridge Textbooks in Linguistics) (Repr. 1987, 1991).