Vorbemerkung

Eugenio Coseriu (*27.07.21, + 06.09.2002) hatte aufgrund seiner Ausbildung zunächst eine Sprachtheorie auf der Basis des europäischen Strukturalismus entwickelt. Er war allerdings auch schon früh über die Grenzen des Strukturalismus hinausgegangen. In Coseriu 1952 stellt er dem Begriff des Sprachsystems nicht nur, im saussureschen Sinne, den Begriff der Rede gegenüber, sondern fügt auch noch den Begriff der Norm hinzu. Während de Saussure den Begriff der parole nur eingeführt hatte, um die langue dagegen abzugrenzen und die Linguistik auf diese zu beschränken, postuliert Coseriu alle drei Ebenen als notwendige Gegenstände der Linguistik. In Coseriu 1955 baut er die Linguistik der Rede aus, indem er eine Theorie der Deixis und der Sprechsituation einführt.

Der Begriff der Sprachkompetenz kommt in Coserius Werk zunächst nicht vor. Er setzt sich aber in Publikationen seit 1970 mit der Generativen Grammatik auseinander, und zwar fast ausschließlich kritisch. Die beiden Publikationen, welche dem Thema der Kompetenz gewidmet sind (Coseriu 1985, 1988), sind Spätwerke. Sie fügen sich zwar nahtlos in Coserius Gesamtwerk ein. Aber sowohl der Terminus ‘Kompetenz’ als auch die Anregung zum Thema stammen offensichtlich von der Generativen Grammatik. Es ist auch vielsagend, daß Coseriu 1985 (ein Extrakt aus Coseriu 1988) eines der ganz wenigen auf Englisch publizierten Werke ist.

Komponenten der Sprachkompetenz

Dem Werk Coseriu 1988 liegt die saussuresche Trichotomie ‘langage – langue – parole’ zugrunde. Kap. 1 des Buchs gibt einen hervorragenden wissenschaftshistorischen Überblick über diese Begriffe. Kap. 2 entwickelt eine Theorie der sprachlichen Kompetenz, die den Begriff des Sprechens (und Verstehens) als fundamental nimmt. Dies hat Coserius Kompetenzbegriff mit dem von Hymes (1972) gemeinsam. Sprachkompetenz umfaßt also viel mehr als bloß die Kenntnis des Systems der Einzelsprache. Unter Rückgriff auf die genannte Trichotomie werden die drei Ebenen der allgemein-sprachlichen, der einzelsprachlichen und der Diskurs-Kompetenz eingeführt.

In Kap. 4 werden die drei Ebenen weiter ausgeführt:

Die elokutive Kompetenz befähigt uns z.B. zum Verständnis solcher Sätze wie dessen in Goethes Faust: “Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.” Da der Satz mehrere Selektionsrestriktionen verletzt, würde eine bloße Systemkompetenz zu keiner semantischen Interpretation gelangen. Der kompetente Hörer begnügt sich jedoch nicht mit der Diagnose, daß da inkongruentes Sprechen vorliegt, sondern sucht statt dessen nach einer metaphorischen Interpretation des Ausdrucks. Elokutive Kompetenz wird auch zur Interpretation von Komposita wie Kaffeemühle und Windmühle benötigt. Die deutschen Wortbildungsregeln verhelfen nur zur Konstruktion der Significata “Mühle, die durch Kaffee näher bestimmt ist” bzw. “Mühle, die durch Wind näher bestimmt ist”. Um die Designata zu konstruieren, nämlich “Mühle, die Kaffee mahlt” vs. “mit Wind betriebene Mühle”, setzt man Weltwissen ein; und das ist von der Einzelsprache unabhängig.

Das expressive Wissen sagt uns z.B., daß man auf Englisch zur Begrüßung good morning sagt, auf Französisch jedoch nicht bon matin (Coseriu 1985). An diesem Beispiel läßt sich die Problematik der Abgrenzung zwischen den drei Komponenten der Sprachkompetenz illustrieren. Bezieht sich das Wissen über dieses spezifische Sprachverhalten auf einen Aspekt des englischen bzw. französischen Sprachsystems, oder auf den Gebrauch von Ausdrücken in bestimmten Kontexten, oder auf Weltwissen? Die angeführten Ausdrücke sind Phraseologismen. Diese gehören jedenfalls zum Sprachsystem; ihre Beherrschung ist also idiomatisches Wissen. Das Problem der Abgrenzung zum expressiven Wissen entsteht dadurch, daß es vom Significatum dieser Ausdrücke zu ihrer pragmatischen Funktion ein weiter Weg ist. Letztere ist jedenfalls auf die außersprachliche Sprechsituation bezogen. Auf dieser Ebene ist die Bedeutung eines Ausdrucks wie guten Morgen etwas wie “ich habe Notiz von deiner Gegenwart genommen und gebe, indem ich dich das wissen lasse, zu verstehen, daß ich mindestens die konventionellen sozialen Relationen mit dir zu pflegen bereit bin”. Die Tatsache, daß diese Bedeutung so weit vom Significatum des Ausdrucks entfernt ist, reicht allein nicht hin, um sie nicht mehr zum Sprachsystem zu rechnen. Zudem würde das Inferieren weiterer Propositionen auf der Basis des Gesagten in Coserius Rahmen eher zum elokutiven Wissen als zu einer der beiden anderen Komponenten gehören. M.a.W., der Sprecher entscheidet sich dafür, eine bestimmte kommunikative Funktion zu erfüllen, und wählt dann aus dem Sprachsystem einen Ausdruck, der dazu geeignet ist, also auf Englisch good morning, auf Französisch jedoch bon jour. Es bleibt hier als eigentlich zum expressiven Wissen gehörig nur der Aspekt, in welchen sozialen Situationen man sich wie verhält, also z.B., ob man überhaupt good morning sagt oder eine andere Form der Kontaktpflege wählt, und bis wieviel Uhr man good morning sagt. Auch dieses ist nicht leicht vom Weltwissen abzugrenzen, für welches aber bei Coseriu die elokutive Kompetenz zuständig ist.

Kap. 5 bezieht die sprachlichen Varietäten in die Kompetenz ein. Eine historische Sprache setzt sich aus mehreren funktionellen Sprachen zusammen, die nach Dialekt, Soziolekt und Stil festgelegt sind. Diese Zusammensetzung ist ihre Architektur. Das Individuum beherrscht Ausschnitte aus dieser Architektur. Nur eine funktionelle Sprache (nicht jedoch eine historische Sprache) hat ein System im strukturalistischen Sinne. [Wenn de Saussures langue eine historische Sprache ist, kann man folglich diesen Terminus nicht für das Sprachsystem verwenden.]

Natur der Sprachkompetenz

Da Coseriu – übrigens ebenso wie Chomsky – im Hinblick auf die Sprachkompetenz von “Wissen” spricht, stellt sich die Frage, was genau mit diesem Wort gemeint ist. Hier beruft sich Coseriu auf Leibniz (1684). Dieser unterscheidet folgende Erkenntnisstufen:

Die unterste Stufe (cognitio obscura) dürfte ungefähr bloße Perzeption (ohne Apperzeption) meinen. Die cognitio clara distincta erfaßt ihren Gegenstand dadurch, daß sie seine distinktiven Merkmale identifiziert, und ist insoweit begründet. Unangemessenes Wissen geht über diese Stufe nicht hinaus, während angemessenes Wissen schließlich die höchste Erkenntnisstufe erreicht dadurch, daß es rekursiv auf die konstitutiven Merkmale des Gegenstands reflektiert, indem es sie analysiert, und so zu deren Begründung gelangt. Diese Klassifikation wendet nun Coseriu auf die Beherrschung einer Sprache durch den Sprecher an.

Es ist klar, daß das sprachliche Wissen ein Tunkönnen ist, d.h. ein Wissen, das sich an erster Stelle im Tun, im Sprechen, manifestiert, und daß es beim Sprechen und Verstehen ein vollkommen sicheres Wissen ist, aber ein Wissen, das entweder gar nicht begründet wird oder für das höchstens erste unmittelbare Gründe angegeben werden, jedoch keine Begründungen für die Gründe selbst. ... Da die hier gemeinte unmittelbare Begründung eigentlich in jedem Fall möglich ist, wenn danach gefragt wird, so kann man das sprachliche Wissen, insbesondere die Kenntnis der Sprache, als eine cognitio clara distincta inadaequata einstufen.
(Coseriu 1988: 210f.)

Man könnte hinzufügen, daß das sprachliche Wissen im Prinzip auch der höchsten Erkenntnisstufe fähig ist und daß es den Linguisten obliegt, sie zu erreichen.

Coserius ‘Sprachkompetenz’ unterscheidet sich von Chomskys ‘Kompetenz’ schließlich dadurch, daß sie eine Eigenschaft jedes einzelnen Mitglieds einer Sprachgemeinschaft und nicht etwa eines idealisierten Sprecher-Hörers ist. Der Mensch bereichert seine Sprachkompetenz im Laufe des Lebens, kann sie aber auch, im Sinne eines ‘use it or loose it’, verarmen lassen. Die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft erreichen unterschiedliche Stufen und Ausprägungen in den verschiedenen Komponenten der Sprachkompetenz (Coseriu 1988, ch. 3.3.9).

Rolle des Buchs

Wenn man die verschiedenen Anhaltspunkte zusammennimmt:

dann legt sich der Schluß nahe, daß dieses Buch Coserius Antwort und Gegenentwurf zur Generativen Grammatik ist. Es ist freilich von den Vertretern der Generativen Grammatik, soweit erkennbar, nicht zur Kenntnis genommen worden.

Diskussion

Der Begriff der Sprachkompetenz wird in Coseriu 1988 erstmals umfassend, kohärent und in allen Dimensionen ausspezifiert. Coserius Entwurf kann als Grundlage für die Weiterentwicklung des Begriffs dienen. Dazu wären u.a. folgende Punkte zu berücksichtigen:

  1. Die saussuresche Trichotomie ‘langage – langue – parole’ hat zwar ein ehrwürdiges Alter (sie geht ja auf Gabelentz 1891 zurück). Aber man kann sie nicht einfach unbesehen zur Grundlage einer linguistischen Theorie machen. Coseriu hatte ja (im Anschluß an Wilhelm von Humboldt) selbst gesagt, “daß das Wesen der Sprache im Dialog, im Miteinandersprechen, auftritt” (Coseriu 1968:139). Das Sprechen (Saussures ‘parole’) ist also der grundlegende Begriff. ‘Langue’ als die dem Sprechen jeweils zugrundegelegte historische Vereinigungsmenge partikulärer Systeme und ‘langage’ als seine allgemein-menschliche Grundlage sind nur Aspekte davon. Und andererseits ist jede der Komponenten des Trios einzubetten in die außersprachliche Umgebung. Diese kann man nicht, wie Coseriu es tut, lediglich der ‘parole’ zurechnen. Das Problem, wie die Sprachkompetenz gegen andere Arten von Kompetenz – gegen andere menschliche Fähigkeiten bzw. Wissensbestände – abzugrenzen ist, stellt sich, wie oben bei der Diskussion der Grußformeln gesehen, nicht nur auf der Ebene der ‘parole’, also als ein Problem des situationsangemessenen Sprechens. Vielmehr ist in ganz analoger Weise zu fragen, wie viel von der Kultur der Sprachgemeinschaft und von den Bedeutungen der Ausdrücke zur Beherrschung des Sprachsystems (Coserius idiomatischem Wissen) gehört, und wie viel von der kognitiven und physiologischen Ausstattung einer Person und seiner sozialen und emotionalen Kompetenz in die elokutive Kompetenz eingeht.
  2. Auch Leibniz' Erkenntnisstufen haben mittlerweile ein ehrwürdiges Alter, und zudem sind es eben Stufen der Erkenntnis, nicht Stufen der Beherrschung einer Tätigkeit. Die moderne und u.a. längst in der Pädagogik etablierte Unterscheidung zwischen prozeduraler und reflexiver Kompetenz scheint erstens dem Gegenstand, nämlich der Sprachtätigkeit und ihrer Beherrschung, angemessener und stellt zweitens eine grundlegende binäre Unterscheidung dar, die man bei Bedarf immer noch durch Abstufung verfeinern kann. Wenn Coserius oben zitierte Behauptung zutrifft, daß Sprache in erster Linie ein Tun-Können ist, dann ist prozedurale Kompetenz die Grundlage der Sprachkompetenz. Der Begriff des Wissens dagegen kommt eigentlich erst auf der Ebene der reflexiven Kompetenz ins Spiel (vgl. Lehmann 2007).
  3. Coserius Konzeption von der funktionellen Sprache, die allein über ein Sprachsystem verfügt, während eine historische Sprache eine Architektur hat, die sich als Kombination mehrerer funktioneller Sprachen ergibt, führt zu einer eleganten Lösung des Verhältnisses von Sprache und Idiolekt: Letzterer ist nicht der elementare Begriff, sondern ein Idiolekt hat im Gegenteil Teil an mehreren funktionellen Sprachen. Hier ist nun der nächste Schritt anzusetzen: Wie ist die sprachliche Kompetenz eines mehrsprachigen Individuums zu beschreiben? Wenn sie auf einer Stufe steht mit der Beherrschung mehrerer Varietäten einer historischen Sprache, dann ist sie Teil seiner Variationskompetenz, und verschiedene Sprachen zu beherrschen ist theoretisch nicht unterscheidbar von der Beherrschung verschiedener Dialekte einer Sprache. Es wäre zu sehen, ob die theoretischen Konsequenzen einer solchen Lösung akzeptabel sind und ob sie psycho- und neurolinguistischer Evidenz standhält.

Literatur

Coseriu, Eugenio 1952, "Sistema, norma y habla." RFHC 10:113-177 (Selbständig: Montevideo: [Universidad de Montevideo]. Abgedr.: Coseriu 1962[T]:11-113.

Coseriu, Eugenio 1955, "Determinación y entorno. Dos problemas de una lingüística del habla" Romanistisches Jahrbuch 7:29-54. Abgedr.: Coseriu 1962[T]: 282-323.

Coseriu, Eugenio 1962, Teoria del lenguaje y lingüística general. Cinco estudios. Madrid: Gredos (Biblioteca Románica Hispánica, II) (2. ed. 1967. Dt.: Coseriu 1975).

Coseriu, Eugenio 1968, "Der Mensch und seine Sprache." Haag, H. & Möhres, F.P. (eds.), Ursprung und Wesen des Menschen. Ringvorlesung gehalten an der Universität Tübingen, Sommersemester 1966 Tübingen: [s.ed.]; 67-79.

Coseriu, Eugenio 1975, Sprachtheorie und allgemeine Sprachwissenschaft. 5 Studien München: Fink (Internationale Bibliothek für Allgemeine Linguistik, 2).

Coseriu, Eugenio 1985, "Linguistic competence: what is it really?" The Modern Language Review 80:XXV-XXXV.

Coseriu, Eugenio 1988, Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens. Bearbeitet und herausgegeben von Heinrich Weber Tübingen: Francke (UTB, 1481).

Gabelentz, Georg von der 1891, Die Sprachwissenschaft. Ihre Aufgaben, Methoden und bisherigen Ergebnisse. Leipzig : Weigel Nachf. Nachdruck: Tübingen, Narr, 1972 (TBL, 1).

Hymes, Dell 1972. "On communicative competence." Pride, John B. & Holmes, John (eds.), Sociolinguistics. Selected readings. Harmondsworth etc.: Penguin Books; 269-293.

Lehmann, Christian 2007, "Linguistic competence: Theory and empiry." Folia Linguistica 41:223-278.

Leibniz, Gottfried Wilhelm 1684, "Meditationes de cognitione, veritate et ideis." Acta eruditorum Lipsiensium(nov.) 537-542.