Die drei konstitutiven Funktionen in der Bildung
Jemand, der sich bildet, verfolgt damit gewisse Ziele. Er hat in bezug auf die Erreichung eines bestimmten Bildungsniveaus grundsätzlich drei Arten von Interessen:
- Er will etwas Sinnvolles lernen; d.h. er will, dass die Bildungsdomäne und die in ihr erreichte Kompetenz für seinen Lebensplan, also für ihn als Persönlichkeit und als Mitglied seiner Gemeinschaft, sinnvoll sind. Er benötigt folglich eine Autorität, die sinnvolle Bildungsinhalte, -ziele und -stufen definiert.
- Er will sicherstellen, dass er tatsächlich auf dieses Niveau hin ausgebildet wird. In dieser Hinsicht kommt es ihm primär darauf an, die mit der Kompetenz verbundenen Inhalte und Fertigkeiten wirklich zu erlangen. Er benötigt folglich eine Autorität, die ihm die Bildungsinhalte vermittelt, ihn im Lernen ständig kontrolliert und ihm Rückmeldung über seine Erfolge gibt.
- Er beansprucht die Rechte, die mit dem Verfügen über das Bildungsniveau verbunden sind. Insoweit das Verfügen über solche Rechte in der Gesellschaft formal an den Nachweis dieses Bildungsniveaus gebunden ist, hat er in erster Linie Interesse an diesem Nachweis. Die Frage, worin er tatsächlich welchen Bildungsgrad erlangt hat, ist ihm in diesem Zusammenhang nachrangig. Er benötigt folglich eine Autorität, die überprüft, ob er über eine Kompetenz auf einem bestimmten Niveau verfügt, und ihm dies öffentlich wirksam bescheinigt.
Gegenüber demjenigen, der sich bildet, – dem Schüler – sind folglich drei konstitutive Funktionen zu erfüllen:
- die Funktion des Normierers, der die Bildungsziele und die Standards festsetzt,
- die Funktion des Lehrers, der den Schüler zu den Zielen führt,
- die Funktion des Prüfers, der das Erreichen eines Ziels auf einem gewissen Standard überprüft und zertifiziert.
Unter bestimmten Voraussetzungen kann ein Autodidakt einige dieser Funktionen selbst übernehmen. In einer komplexen Gesellschaft sind jedoch die meisten Bildungsdomänen Komponenten eines Bildungssystems, in dem die Schüler nicht völlig autonom, sondern hochgradig fremdbestimmt sind. Zudem findet ein wesentlicher Teil jeglicher Bildung in der Kindheit und Jugend statt, in einem Alter also, wo die Schüler noch nicht über die notwendige Reife verfügen, um die drei genannten Funktionen selbst verantwortlich zu erfüllen. [Eine verantwortliche Erfüllung der dritten Funktion traut man – aus gutem Grund – keinem Schüler zu.]
Gewaltenteilung in der Bildung
In einem guten Bildungssystem herrscht in bezug auf die drei konstitutiven Funktionen Gewaltenteilung. Nicht nur obliegt keine der drei Funktionen dem Schüler; sondern:
Der Normierer, der Lehrer und der Prüfer sind drei verschiedene Instanzen (inkl. Personen); keine zwei dieser Funktionen werden von derselben Instanz ausgeführt.
Warum können der Normierer und der Prüfer nicht identisch sein?
Die Bildungsnorm ist de facto in einer Gesellschaft verbindlich und muß daher objektiv sein. Wenn der Prüfer mit dem Normierer identisch wäre, würde das bedeuten, daß der Normierer die Interpretationshoheit über die Bildungsnorm hat. Dann ist diese aber nicht objektiv. Das Argument ist analog zu demjenigen, welches im Staat die Trennung der Legislative von der Judikative verlangt: nur in der Praxis der Judikative läßt sich empirisch feststellen, ob die Legislative die Gesetze ändern muß.
Zudem stellt die Trennung der Funktionen sicher, daß der Normierer nicht die Interpretation und Operationalisierung der von ihm formulierten Normen monopolisieren kann; die Normen müssen für alle transparent sein.
Warum können der Lehrer und der Prüfer nicht identisch sein?
Es ist sowohl im Interesse des Schülers als auch im Interesse der Gesellschaft, daß die beiden distinkt sind:
- Sowohl der Schüler, der sicher gehen möchte, daß er das Ziel wirklich erreicht hat, als auch die Gesellschaft, die dem Schüler bei Erreichung des Ziels gewisse Rechte konzediert, haben ein Interesse daran, daß dies objektiv überprüft wird.
- Der Schüler engagiert den Lehrer, damit dieser ihn zu dem Bildungsziel führt. Insoweit letzteres in der Verantwortung des Lehrers liegt, hat der Lehrer ein Interesse daran, daß der Schüler das Ziel erreicht. Er ist folglich in der Beurteilung des Ergebnisses nicht objektiv.
Folglich kann man die Überprüfung der Erreichung des Bildungsziels nicht dem Lehrer überlassen.
Warum können der Normierer und der Lehrer nicht identisch sein?
Der Lehrer hat ein persönliches Interesse daran, das zu lehren, was er kann. Das ist nicht identisch mit einem Bildungsziel, welches in einer Gesellschaft einen Wert darstellt, der von dem Schüler übernommen wird. Ein Bildungssystem, welches die Festsetzung von Bildungszielen den Lehrern überläßt, ist zur Reform unfähig.
Status quo
In zahlreichen Bildungssystemen – darunter insbesondere dem deutschen – ist die Gewaltenteilung in der Bildung nicht oder ungenügend umgesetzt. Mehrere oder sogar alle drei der konstitutiven Funktionen werden von derselben Instanz erfüllt:
- Auf der Schule bringt der Lehrer den Schülern den Stoff bei und gibt die Noten. Auch bei den Abschlußprüfungen wirkt er noch maßgeblich mit.
- Außerdem setzt er zwar nicht selbst die Bildungsziele fest, aber er hat – von den Kultusministerien verbriefte – weitgehende Freiheit in deren Interpretation, in der Auswahl des Stoffs und der Ausspezifikation der Bildungsziele in Form von Lernzielen.
Auf den Hochschulen ist es noch viel schlimmer:
- Die Professoren setzen selbst die Bildungsziele fest. Gelegentlich gibt es gesellschaftlichen Druck zur Reform. Der aber wird von Nicht-Fachleuten ausgeübt und hat daher gegenüber den Inhabern der Freiheit von Forschung und Lehre nur mäßigen Erfolg.
- Die Professoren haben die Funktion des Lehrers.
- Die Professoren nehmen selber die Prüfungen ab und geben die Noten. Zwar gibt es neben dem Erstprüfer einen Zweitprüfer; der ist aber Kollege und kann die Objektivität des Verfahrens nur wenig steigern.
Konsequenzen
Von vielen Seiten wird Druck ausgeübt dahin, daß möglichst viele Personen gewisse Abschlußzertifikate bekommen. D.h., das eingangs genannte Interesse #3 überwiegt die beiden anderen. Herrschte im Bildungssystem Gewaltenteilung, so könnte diesem Druck widerstanden werden. Beim Stand der Dinge jedoch gibt es negative Konsequenzen, die sattsam bekannt sind und daher nur stichwortartig erwähnt zu werden brauchen:
- Auf allen Ebenen des Bildungssystems werden die Anforderungen gesenkt, weil es keinen unabhängigen Maßstab für Bildungsinhalte und -niveaus gibt.
- Sowohl auf der Schule als auch auf der Hochschule herrscht Noteninflation. Auf der Hochschule besteht der Mißstand auf allen Niveaus: Durch eine Promotion durchzufallen ist fast unmöglich; in vielen Fakultäten können Promovenden damit rechnen, eine der beiden besten Noten zu bekommen.
Die Folgerungen liegen auf der Hand; folgende Prinzipien müssen umgesetzt werden:
Normierung
- Bildungsziele werden in einem demokratischen Verfahren von kleinen Gremien vorgeschlagen und von großen Gremien verabschiedet. Diese sind zusammengesetzt aus:
- Fachleuten aus Disziplinen, die für Bildungsziele zuständig sind: Pädagogen, Bildungssoziologen, Ethikern,
- Fachleuten in der betreffenden Bildungsdomäne,
- Fachdidaktikern der betreffenden Bildungsdomäne,
- qualifizierten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, z.B. Leitern von Bildungswerken und Stiftungen.
- Bildungsziele müssen ausspezifiziert werden:
- Sie werden in Kompetenzstufen gestaffelt.
- Sie werden in Form von Lernzielen untergliedert.
- Die Lernziele werden in Form von Problemen, die der Schüler löst, (Typen von Prüfungsaufgaben und Specimina davon) operationalisiert.
- Mit den Normen ist ein Notensystem verbunden. Dieses enthält für jede Kompetenzstufe eine Vorschrift darüber, welcher Prozentsatz von Prüflingen welche Note bekommt.
- Bildungsziele werden in steter Rückkoppelung mit den Prüfern und mit den Lehrern überarbeitet.
Lehre
Lernen/Lehren ist im Prinzip eine bipolare Relation, in der auch der Schüler bestimmte Entscheidungen trifft. Wenn der Schüler noch unmündig ist, tut das sein Erziehungsberechtigter für ihn.
- Der Prüfungserfolg der Personen, die ein Lehrer zu der betreffenden Stufe geführt hat, wird – mit dem Namen des Lehrers, ohne die Namen der Schüler – veröffentlicht.
- Ein Schüler engagiert sich einen Lehrer bzw. vertraut sich ihm an.
- Der Schüler nennt dem Lehrer die Bildungsziele, die er erreichen will, und trifft insoweit mit ihm eine Zielvereinbarung.
- Das [unabhängige!] Prüfungsergebnis gibt Auskunft darüber, in wieweit das vereinbarte Ziel erreicht wurde.
Prüfung
- Prüfer gehören entsprechenden Institutionen an.
- Sie werden von Gremien, welche aus Normierern und aus Lehrern zusammengesetzt sind, eingesetzt.
- Jeder, der will, kann sich bei einer Prüfungsinstitution zur Prüfung anmelden. Ein Nachweis vorgängiger Ausbildung ist nicht erforderlich. (Da die Prüfung kostenpflichtig ist, ist hier kein Mißbrauch zu befürchten.)
- Die Prüfung überprüft Kompetenz auf einer bestimmten Stufe systematisch. Sie ist also nicht lediglich stichprobenartig und konzentriert sich auch nicht auf “Prüfungsthemen”, die zuvor mit dem Prüfling vereinbart wurden.
- Die Prüfungsinstitution hält sich in der Verteilung der Noten auf die Gesamtheit ihrer Prüflinge an die o.a. Normen.