Viele Begriffe, mit denen wir täglich hantieren, sind nicht klar gegeneinander abgegrenzt. Die Wissenschaft hat sich dieses Problems schon lange angenommen. Nach einer weithin akzeptierten Auffassung ist zwischen kategorischen und prototypischen Begriffen (→ ausführliche Darstellung) zu unterscheiden:
- Kategorische Begriffe sind in dem Sinne klar gegeneinander abgegrenzt, dass für jedes Element eine einfache Ja/Nein-Entscheidung gefällt werden kann zu der Frage, ob es unter einen Begriff fällt bzw. ob es stattdessen unter einen benachbarten Begriff fällt. Solche Begriffe gibt es vor allem in logischen Gedankengebäuden. In der Aussagenlogik ist z.B. der Begriff der Wahrheit ein kategorialer Begriff: eine Aussage ist entweder wahr oder falsch; tertium non datur.
- Prototypische Begriffe haben zwar ein durch eine fokale Instanz – einen maximal klaren Fall – besetztes Zentrum, aber keine klaren Grenzen. Benachbarte Begriffe gehen ineinander über, und während über die Zuordnung einer fokalen Instanz kein Zweifel besteht, kann man über die Zuordnung marginaler Fälle verschiedener Meinung sein. Solche Begriffe gibt es vor allem im empirischen und hermeneutischen Bereich. Farbbegriffe sind z.B. prototypische Begriffe: Die Farbe der Sonne ist die fokale Instanz für ‘Gelb’, aber es gibt Phänomene (□), deren Zuordnung zu Gelb oder Orange unklar ist.
Viele Menschen finden es schwer, mit prototypischen Begriffen zu leben. Für sie ist etwas entweder schwarz oder weiß; die wunderbare Welt der Zwischentöne entgeht ihnen. Das betrifft alle Lebensbereiche: Jemand ist entweder ein Christ, oder er ist kein Christ; etwas ist gut oder schlecht; dazwischen gibt es nichts. Menschen, die solchen kategorischen Entscheidungen ausweichen, sind in den Augen der Kategorialisten prinzipienlose Weicheier.
Zwischen der Menge solcher Kategorialisten und der Menge der politisch Korrekten gibt es eine nennenswerte Schnittmenge. Personen in dieser Schnittmenge sind auf einer höheren Stufe politisch korrekt: sie verbieten nicht nur den Gebrauch von Tabuwörtern, sondern sogar das Denken von Begriffen, die von tabuisierten Wörtern bezeichnet werden (→ zur Unterscheidung). D.h. sie ersinnen nicht, wie sonstige politisch Korrekte, Euphemismen für Tabubegriffe, um die Tabuwörter zu meiden. Sondern sie leugnen die Existenz von Phänomenen, die unter einen tabubehafteten Begriff fallen, und verbannen folglich den Begriff aus dem Denken. Die Frage eines politisch korrekten Ausdrucks für den Begriff stellt sich nicht, weil es den Begriff gar nicht gibt.
Ein Beispiel für von dieser Art von politischer Korrektheit betroffene Begriffe ist der der Rasse. Der Begriff ist tabubehaftet, weil er in vielen Zeiträumen und Weltgegenden mit der Absicht auf Menschen angewandt wurde, zwischen Menschenrassen qualitative Unterschiede zu machen und als minderwertig betrachtete Rassen zu unterdrücken oder gar auszulöschen. Es braucht an dieser Stelle nicht vertieft zu werden, dass Rassismus eine der niederträchtigsten Varianten menschlicher Bosheit ist. Zur Diskussion steht hier nicht, ob Rassismus eine rationale oder ethische Grundlage hat – selbstverständlich hat er keine –, sondern ob es Menschenrassen gibt. Wenn es keine gibt, ist natürlich der Rassismus gegenstandslos. Wenn es welche gibt, hat er wenigstens ein Ziel.
Die politisch Korrekten behaupten also, es gebe keine Rassen, um dem Rassismus den Boden zu entziehen. Beispiele für diese Haltung sind mittlerweile Legion. Die Behauptung findet sich seit Jahrzehnten in angesehenen anthropologischen Museen. Sie wird breit ausgeführt im Wikipedia-Artikel über ‘Rasse’ (16.06.2020). Sie liegt einer Initiative mehrerer Mitglieder des Deutschen Bundestages im Juni 2020 zugrunde, die den Wortlaut von Artikel 3 des Grundgesetzes ändern wollen. Da heißt es bisher, dass niemand wegen seiner Rasse benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Die Initiatoren wollen die Rasse aus dem Katalog der Kriterien für Ungleichheit streichen.
Hierzu ist mehreres zu sagen:
- Der Begriff der Rasse war schon immer ein prototypischer Begriff. Stets hat man mit reinrassigen und gemischtrassigen Exemplaren und sogar mit rasselosen Exemplaren gerechnet: letztere sind solche, die sich keiner bekannten Rasse zuordnen lassen. Wann immer in der Biologie von Rassen die Rede ist, ist diese Struktur des Rassenbegriffs selbstverständlich vorausgesetzt. Und auch alle Laien, die den Begriff verwenden – und mit Bezug auf Hunde tun das viele –, gestehen das jederzeit zu.
- Menschen sind eine Art von Lebewesen im selben Sinne wie Schimpansen und Hunde. Mit Rassen von Menschen ist begrifflich nichts anderes gemeint als mit Rassen von Hunden. Im Falle der Menschen ist der evolutive Ursprung der Rassenvielfalt allerdings viel besser wissenschaftlich untersucht und begründet als im Falle irgendeiner anderen Art. Es ist inzwischen in der Anthropologie unstrittig, dass die aus Afrika stammende Varietät des Homo sapiens sich bei ihrer Verbreitung über den Globus mit Hominiden gekreuzt hat, die bereits in den Zielregionen ansässig waren. Daraus ergaben sich mehrere Rassen des modernen Homo sapiens.
- Auch bei Menschen gibt es fokale Instanzen einer Rasse und “rasselose” im genannten Sinne. Diese Behauptung ist empirisch testbar auf dieselbe Weise, wie man testen kann, ob es eine Basis für die Unterscheidung von Schäferhunden und Pudeln gibt, und auf dieselbe Weise, wie die Wissenschaft die Struktur von Farbbegriffen empirisch getestet hat. Auch hier rechnet man mit “farblosen” Gegenständen. Deren Existenz ist noch nie ein Grund gewesen, die Existenz von Farben zu leugnen. Ein solcher Schluss wäre logisch nicht zu begründen.
- Für das Beispiel der Menschenrasse folgt daraus: Menschenrassen wird es noch so lange geben, wie nicht alle Menschen der Welt sich miteinander vermischen, so dass die gesamte Art völlig homogen wird. (Ob das überhaupt erstrebenswert wäre, kann man bezweifeln.)
- Die Elimination des Begriffs der Rasse – mit Bezug auf Menschen oder gar überhaupt – trägt zu dem Ziel, den Rassismus zu eliminieren, nichts bei. Man kann dem Rassismus nicht die Basis entziehen dadurch, dass man die Existenz von Rassen leugnet. Niemand wird daran gehindert, Neger oder Indios (oder Juden oder Zigeuner) zu unterdrücken, dadurch, dass man ihm erzählt, es gebe keine Rassen und folglich keine Neger oder Indios. Und was schließlich die vorgeschlagene Änderung des Grundgesetzes betrifft, so erreicht sie das präzise Gegenteil des angeblichen Zwecks: Dadurch, dass die Rasse nicht mehr Kriterium möglicher Diskrimination ist, ist die Diskriminierung aufgrund der Rasse nicht mehr verboten.
- Politische Korrektheit verfolgt angeblich ein ehrenwertes Ziel, nämlich Menschen, die eine tabubehaftete Eigenschaft haben, zu schützen. Sie verfolgt dieses Ziel dadurch, dass sie Menschen den Gebrauch von Wörtern und, im höherstufigen Fall, den Gebrauch von Begriffen verbietet. Diese Methode ist erstens untauglich: man kann die Welt nicht dadurch verändern (und evtl. bessern), dass man die Sprache ändert (bessern kann man die Sprache ohnehin kaum). Sie ist zweitens abzulehnen: dass ein Mensch einem anderen vorschreibt, was er sagen oder denken darf, ist ein klarer Fall von Unterdrückung; der Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert die Meinungsfreiheit. Eher sollte man also die politische Korrektheit verbieten: die ist wirklich schädlich.
Und schließlich: Ich halte mich im Ausland auf, z.B. in Portugal. Ich werde gelegentlich im öffentlichen Raum von Portugiesen angesprochen. Ohne Ausnahme sprechen sie mich auf Englisch an; keiner redet mich auf Portugiesisch an. Und dies, obwohl ich keine der touristentypischen Accessoires (vom Baseballcap über den Rucksack und die Bermudashorts bis zu bloßen Füßen in Sandalen) an mir habe und auch keinen Ton von mir gebe. Woher also wissen sie, dass ich kein Portugiese bin? Ich bin froh, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Gemeinschaft (ebenso wie das deutsche Grundgesetz) die Diskriminierung von Rassen verbietet.