Die Frage “was ist eigentlich Sprachwissenschaft?” kann auf verschiedene Weise beantwortet werden. Sie kann verstanden werden als die Frage “wie arbeiten Sprachwissenschaftler?” Denn für jegliche Wissenschaft ist es bedeutsam, daß sie nach Methoden vorgeht; und die besonderen Methoden, die in einer Wissenschaft angewandt werden, können sie durchaus charakterisieren (wenn auch nicht begründen). Daher hier drei Beispiele
Die Beispiele zeigen, wie Linguisten sprachliche Phänomene analysieren.
- Sie entwickeln ein Erkenntnisinteresse an einem bestimmten Phänomen im Objektbereich, also an sprachlichen Zusammenhängen, die entweder selbst beobachtbar sind oder denen jedenfalls etwas Beobachtbares im sprachlichen Leben entspricht.
- Sie sammeln in unvoreingenommener Weise repräsentative Daten über das fragliche Phänomen.
- Sie analysieren und klassifizieren die in diesen Daten vorkommenden sprachlichen Einheiten.
- Sie versuchen, in der sich zeigenden sprachlichen Variation ein Muster, eine Regelmäßigkeit, ein Prinzip zu erkennen.
- Sie formulieren dieses Prinzip gleichzeitig so präzise und so allgemein wie möglich.
- Sie setzen die Variation und das über ihr waltende Prinzip in Beziehung zu seiner Umgebung (benachbarte Bereiche oder frühere Stadien des Sprachsystems, Bedingungen, unter denen die Sprache gesprochen wird).
- Sie fragen danach, wie dieses Prinzip in der Sprachtätigkeit oder ihren Rahmenbedingungen begründet ist, integrieren es also in eine Sprachtheorie.
Diese Art des Herangehens1 kommt tatsächlich in anderen Wissenschaften, die sich auch gelegentlich mit Sprache befassen – etwa der Philosophie, der Literaturwissenschaft oder Kommunikationswissenschaft – nicht vor, und natürlich erst recht nicht außerhalb der Wissenschaft, wenn Laien über Sprache nachdenken. Sie folgt aus dem besonderen Erkenntnisinteresse der Sprachwissenschaft: Sprachwissenschaftler wollen nicht in erster Linie wissen, wie man präzise und verantwortungsvoll spricht (das wollen die Philosophen wissen) oder wie man schön spricht (das wollen die Literaturwissenschaftler wissen) oder wie man erfolgreich spricht (das wollen die Kommunikationswissenschaftler wissen), sondern wie man überhaupt spricht, d.h. wonach es sich richtet, wenn man so und nicht anders sagt, und wie man Gehörtes bzw. Gelesenes versteht.
1 So wie hier geschildert, ist es ein induktives Vorgehen. Dasselbe Erkenntnisinteresse kann man auch deduktiv verfolgen.