Einleitung
Nimmt man eine Sprache nicht als abgeschlossenes System, sondern als historischen Gegenstand, d.h. als eine Weise der Verständigung, die an die Koordinaten einer bestimmten Sprachgemeinschaft gebunden ist, so weist sie Variation entlang einer Menge von Dimensionen auf, die wie folgt systematisiert werden kann:
Dimension | Erläuterung | Beispiele |
---|---|---|
diaphasisch | In verschiedenen Kommunikationssituationen werden verschiedene Stilebenen oder Register verwendet. | gesprochene vs. geschriebene Sprache, ‘foreigner talk’, vulgärer Stil |
diastratisch | In (nach Alter, Geschlecht, Beruf ...) verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen werden unterschiedliche Soziolekte verwendet | Jugendsprache, Jägersprache |
diatopisch | An verschiedenen Orten des Sprachgebiets werden unterschiedliche Dialekte gesprochen | Sächsisch, Cockney English |
diachronisch | Varianten oder sogar historische Stadien folgen einander auf der Zeitachse | ausgestorbene, obsolete, altmodische, geläufige, modische Ausdrücke |
Von diesen gehört die letztgenannte eigentlich nicht in eine Reihe mit den ersten dreien, sondern verläuft orthogonal zu ihnen, da man jegliches sprachliche Phänomen, folglich auch diaphasische, diatopische und diastratische Varietäten, ebensowohl synchron wie diachron ansehen kann. Daher wird die diachrone Variation nicht hier, sondern in Kap. 7 besprochen. Die ersten drei werden im folgenden der Reihe nach behandelt. Zuvor ist allerdings auf eine terminologische Regelung aufmerksam zu machen:
- Eine sprachliche Variante ist eine Einheit eines Sprachsystems in ihrer Eigenschaft, mit einer anderen derselben Ebene zu alternieren. Z.B. sind Allophone, Allomorphe und Synonyme Varianten voneinander.
- Eine sprachliche Varietät ist eine Ausprägung einer Sprache auf einer der o.a. Dimensionen der sprachlichen Variation. Z.B. sind Dialekte und Soziolekte Varietäten einer Sprache.
Varietäten nach Verwendungssituationen: Register und Stile
Die diaphasischen Varietäten sind Mittel zu leicht unterschiedlichen Zwecken und nennen sich daher auch funktionale Varietäten. Sie unterscheiden sich vor allem auf zwei Parametern:
- Nach dem verwendeten Medium unterscheidet man zwischen Schriftsprache und gesprochener Sprache. Die Problematik ist anderswo ausführlicher dargestellt. Der Unterschied zwischen den beiden Varietäten ist in erster Linie durch die verschiedene Funktion und das entsprechend gewählte physikalische Medium selbst bedingt. Deshalb ist die gesprochene Sprache spontaner, strukturell weniger komplex und mehr an die Sprechsituation gebunden, während die Schriftsprache geplanter, komplexer und situationsentbundener ist. Natürlich kann man in jedem Medium die Eigenheiten des jeweils anderen Registers nachahmen, und insoweit können beide Register sich von ihrem Medium verselbständigen. Es kommt hinzu, daß die Schriftsprache, mindestens auf den niederen sprachlichen Ebenen (Orthographie/Phonologie und Morphologie), konservativer zu sein pflegt, während sich die gesprochene Sprache weiterentwickelt. Dieser Unterschied besteht in allen literaten (lese- und schreibkundigen) Sprachgemeinschaften und firmiert unter der Bezeichnung Schriftsprache vs. Umgangssprache. In einigen Sprachen ist die Schere zwischen den beiden Varietäten durch jahrhundertelangen Stillstand der Schriftsprache bei stetigem Wandel der gesprochenen Sprache so weit aufgegangen, daß sie nicht mehr wechselseitig verständlich sind. Eine solche soziolinguistische Situation nennt sich Diglossie (griechisch, “Zweisprachigkeit”).1 Für die Sprachgemeinschaft bedeutet sie, daß wer lesen und schreiben lernen will, eine andere Sprache zu lernen hat. Dies war die Situation in der urromanischen Sprachgemeinschaft bis 813, als das ökumenische Konzil von Tours erkannte, daß es keinen Zweck mehr hatte, daß die Pfarrer auf Latein predigten, weil die Gläubigen, die längst romanische Varietäten sprachen, es nicht verstanden. In Griechenland bestand über anderthalb Jahrhunderte Diglossie zwischen Katharevousa (“bereinigte Sprache”) und Dimotiki (“Volkssprache”), bis erstere 1976 zugunsten der letzteren abgeschafft wurde. Ähnlich ist in den arabischsprachigen Ländern das Verhältnis zwischen dem (auf der Sprache des Korans basierenden) Hocharabischen und den gesprochenen Dialekten.
- Nach spezifischen Verwendungsbedingungen unterscheidet man zwischen Registern und Stilen. Diese können bestimmten Textgenres oder sogar bestimmten Autoren oder Werken eigen sein. Hier sind ein paar Beispiele:
- Formalität: Folgendes Beispiel illustriert Register abnehmender Formalität anhand von Varianten einer englischen Äußerung:
Register des Englischen (Strevens 1964, ap. Corder 1973:62) Nr. Register Beispiel a. Frozen Visitors should make their way at once to the upper floor by way of the staircase. b. Formal Visitors should go up the stairs at once. c. Consultative Would you mind going upstairs right away, please? d. Casual Time you all went upstairs now. e. Intimate Up you go, chaps! Das formelle und das informelle Register können in einer Sprache sogar grammatische Kategorien werden. Im Japanischen trägt das Verb in formeller Redeweise das Suffix -imas-, also z.B. aru “sein” – arimasu “sein (formell)”. - Honorifikation: Höflichkeitsstufen schlagen sich in vielen Sprachen im Sprachsystem nieder. Sie markieren den Abstand des Sprechers zum Angesprochenen, aber auch zum Besprochenen. So gibt es in vielen Sprachen Pronomina der vertrauten vs. höflichen Anrede (du vs. Sie). Aber auch im Vokabular wird differenziert, also etwa zwischen deine Frau und Ihre Gattin. Im Japanischen gibt es auch honorative Morphologie, z.B. hanasu “erzählen” – o-hanasu “einer honorifizierten Person erzählen”.
- In der rituellen Sprache sind ganze Interaktionsroutinen formelhaft festgelegt. Wenn z.B. im katholischen Gottesdienst der Priester die Gläubigen mit Der Herr sei mit euch! grüßt, antworten diese Und mit deinem Geiste!
- Poetischer vs. prosaischer Stil: Obsolete Ausdrücke wie Aar und Maid waren im 18. und 19. Jh. Merkmale des poetischen Stils.
- Bibelstil: Bestimmte Wendungen wie und es begab sich, daß ... sind aus älteren Bibelübersetzungen bekannt.
- Kanzleistil: In bürokratischen Kontexten bilden sich Sondersprachen heraus. Wendungen wie ergebenst anheimstellen datieren noch aus der preußischen Verwaltung, aber Anschrift durch Antragsteller einsetzen findet sich in einem thüringischen Formular des 21. Jh.
- Vulgärer oder ordinärer Stil ist in erster Linie durch Verwendung von Wörtern, etwa Fäkalienausdrücken, charakterisiert, die in gehobenen Varietäten tabu sind. Aber auch eine Tonlage und Stimmführung kann als ordinär empfunden werden.
- Formalität: Folgendes Beispiel illustriert Register abnehmender Formalität anhand von Varianten einer englischen Äußerung:
Die Register und Stilebenen sind stark an die erste Unterscheidung zwischen Schriftsprache und mündlicher Sprache gebunden in dem Sinne, daß in der ersteren wesentlich stärkere Differenzierung nach Registern und Stilen herrscht.
Varietäten nach sozialen Gruppen: Soziolekte
Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe neigen dazu, so wie die anderen Gruppenmitglieder zu sprechen, nicht nur, weil Konformismus für viele ein Automatismus ist, sondern auch, um sich nach außen als Mitglied der Gruppe darzustellen. Die Menge der Merkmale, die die Varietät einer sozialen Gruppe ausmachen, ist ein Soziolekt oder sozialer Stil. Ein herausragender Forscher auf dem Gebiet der sozialen Varietäten einer Sprache ist William Labov, der z.B. die soziale Stratifikation des Englischen in New York und die Neger-Soziolekte in den U.S.A. beschrieb. Er arbeitete besonders heraus, daß der Gebrauch eines Soziolekts einer Person soziale Identität verleiht. Auf diese Weise bilden sich auch ethnische Varietäten heraus, also etwa das Black English in den U.S.A., aber auch das Immigranten- oder "Gastarbeiterdeutsch" im deutschen Sprachraum.
Für den Sprachgebrauch relevante Parameter der sozialen Gruppierung sind die folgenden:
- Alter: Alte Menschen sind oft sprachlich konservativ und benutzen als letzte Ausdrücke und Konstruktionen, die für die jüngeren schon obsolet sind, sagen also etwa im Jahre 1940, wo Jüngere in 1940 sagen würden. Junge Menschen dagegen sind typischerweise die ersten, die Modismen aufgreifen und z.B. Dinge kultig oder stylish finden, noch bevor die Älteren mitbekommen haben, worum es überhaupt geht.
- Geschlecht: Frauen sprechen anders als Männer. In einer weitgehend egalitären Gesellschaft wie der unseren ist der Unterschied nicht so ausgeprägt und zeigt sich in eher anekdotischer Weise an solchen Beispielen wie dem Ausdruck süß, den eine Frau, nicht jedoch ein Mann zur Charakterisierung eines Erwachsenen verwenden kann, oder daran, dass Frauen Schiss, Männer jedoch Angst haben.2 In anderen Sprachen wie dem Tschuktschischen gehen die männlichen und weiblichen Varietäten sehr viel weiter auseinander und erfassen den größten Teil des Vokabulars.
Eine komplexere Variante einer solchen Unterscheidung findet sich in der Schwiegermuttersprache, die unter den Stämmen Australiens verbreitet ist. Der hier relevante Parameter wird weder durch den Sprecher noch durch den Hörer, sondern durch den bystander (Person in der Sprechsituation außer Sprecher und Hörer) gesetzt: man spricht anders, wenn die Schwiegermutter in Hörweite ist. In einigen australischen Sprachen wird in einem solchen Falle ein erheblicher Teil des Vokabulars ausgetauscht. - Berufsgruppe: Zu den meisten Berufen gehört eine besondere Fachterminologie, gelegentlich auch eine besondere Ausdrucksweise, etwa Leinen los! – Ruder hart Backbord! Viele Ausdrücke lassen sich so eindeutig einer Fachsprache zuordnen, daß diese sogar in einem Wörterbucheintrag angegeben werden kann. Wenn jemand z.B. Appendizitis statt Blinddarmentzündung sagt, spricht er Ärztesprache. Die Kodifikation von Fachsprachen bildet übrigens ein reiches Anwendungsfeld der Linguistik.
- Andere Sondersprachen gehören anders konstituierten gesellschaftlichen Gruppen an, so die (mindestens in der deutschen linguistischen Tradition bekannte) Gaunersprache oder das sog. Argot in Frankreich, ursprünglich ebenfalls eine Gaunersprache, heute jegliche exklusive Sprache.
Varietäten nach geographischer Verbreitung: Dialekte
Dialektale Unterschiede
Wenn die Kommunikation traditionell innerhalb geographisch begrenzter Regionen verläuft, bilden sich diatopische (= regionale) Varietäten einer Sprache, gewöhnlich Dialekte genannt. Beispiele sind im deutschen Sprachraum Alemannisch, Bayrisch und Fränkisch, im englischen Sprachraum britisches vs. amerikanisches Englisch, im italienischen Sprachraum u.a. Neapolitanisch und Piemontesisch. Die regionale Differenzierung kann beliebig weit gehen, und man spricht dann vielleicht auf Provinzebene von Dialekten, auf Dorfebene aber von Mundarten.
Traditionelle Dialekte bilden also vor allem die (fehlende) Mobilität der Bevölkerung ab. Daher sind benachbarte Dialekte oft untereinander verständlich, während geographisch entfernte Dialekte es oft nicht sind. Ein Dialektkontinuum ist eine sequentielle Verteilung von Dialekten im geographischen Raum derart, daß je zwei benachbarte Dialekte wechselseitig verständlich sind, während sich bei mittelbaren Beziehungen die Unterschiede verstärken, so daß die Dialekte an den Polen des Kontinuums wechselseitig unverständlich sein können. Klare Beispiele bieten das deutsche Dialektkontinuum von der Waterkant bis in die Alpen und andererseits das italienische Dialektkontinuum von den Alpen bis nach Sizilien. Die dialektale Gliederung eines Sprachraums wird ganz gut durch die Wellentheorie erklärt.
Sprache vs. Dialekt
Die Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt ist hoch problematisch. Das Kriterium der wechselseitigen Verständlichkeit wird häufig als rein linguistisches Kriterium angeführt. Es versagt jedoch auf der ganzen Linie (s.a. Identität einer Sprache:
- Es kann die tatsächlich etablierten Sprachen und Dialekte nicht modellieren. Einerseits sind manche Sprachen, z.B. Russisch und Ukrainisch, wechselseitig verständlich, und andererseits sind gemäß dem soeben Gesagten manche Dialekte einer Sprache, z.B. Plattdeutsch und Alemannisch, nicht wechselseitig verständlich.
- Das Kriterium wäre differenziert auf die verschiedenen Varietäten der betreffenden Idiome anzuwenden. Z.B. sind manche romanischen Sprachen qua Schriftsprachen wechselseitig verständlich, bei mündlicher Kommunikation aber kaum.
- Das Kriterium ist gar kein rein linguistisches. Ob man einen anderen versteht, hängt in erster Linie davon ab, ob man ihn verstehen will . Z.B. würden die Portugiesen und Brasilianer vermutlich Spanisch einigermaßen verstehen können, aber die nachbarschaftlichen Verhältnisse in Iberien und Lateinamerika sind traditionell nicht so, daß sie unbedingt auf Spanisch angequatscht werden wollen. Des weiteren ist Verstehen eines anderen Idioms auch eine Frage der individuellen sprachlichen Kompetenz.
Ein theoretisch begründeter und gleichzeitig empirischer Zugang zu der Unterscheidung von Sprache und Dialekt ist vielleicht wie folgt möglich: Dialekte sind Varietäten einer Sprache; folglich gehören die Sprecher der verschiedenen Dialekte zu einer einzigen Sprachgemeinschaft. Eine Sprachgemeinschaft ist eine Menge von Menschen, die miteinander kommunizieren. Dieses letztere Kriterium kann man wie folgt operationalisieren: Gemäß der Wellentheorie breiten sich Sprachwandel in einer Sprachgemeinschaft, nicht jedoch über deren Grenzen hinaus aus. Man wählt eine hinreichend große Menge von Sprachwandeln – am besten Lautwandel (und natürlich nicht Veränderungen, die als Entlehnung aufzufassen sind) –, die in einem Sprachenraum stattgefunden haben. Alle Varietäten, die von einem Wandel erfaßt wurden, gehören zur selben Sprache. Grenzen, an denen alle Wandel abprallen, sind Sprachgrenzen.
Als rein wissenschaftliches Kriterium der Unterscheidung wäre überdies der Grad der Unterschiedlichkeit der betreffenden Sprachsysteme denkbar. Man müßte ihn anhand von sprachlichen Kategorien im phonologischen, grammatischen und lexikalischen System messen. Die linguistische Methodologie ist jedoch, kurz gesagt, nicht weit genug entwickelt, daß sie das auf seriöse und fruchtbare Weise tun könnte.
Wenn man stattdessen empirisch erhebt, welche Idiome und Varietäten als Sprachen und welche als Dialekte bezeichnet werden, stellt man in erster Linie politische Motive fest:3 genetisch verwandte Varietäten bzw. Idiome, die in einem Staat bzw. von einer Nation gesprochen werden, werden i.a. als Dialekte bezeichnet; und umgekehrt bestehen verschiedene Nationen oft darauf, verschiedene Sprachen zu sprechen. Beispiel für den ersteren Fall sind die chinesischen Sprachen, die in China offiziell als Dialekte gelten, obwohl sie – wenigstens mündlich – keinesfalls wechselseitig verständlich sind. Beispiel für den letzteren Fall sind z.B. Niederländisch und Niederdeutsch, die zwanglos wechselseitig verständlich sind, oder – noch krasser – Serbisch und Kroatisch, die sich nur in Details der Orthographie unterscheiden, aber aus politischen Gründen zwei Sprachen sein sollen.
Dialekt und Standardsprache
Die Dialekte einer Sprache im beschriebenen Sinne haben, systematisch betrachtet, alle denselben Status. Die Frage, ob es in der betreffenden Sprachgemeinschaft eine Hoch- oder Standardsprache gibt, ist davon unabhängig. D.h. die Dialekte werden nicht dadurch zu Dialekten, daß sie gegenüber einer Standardsprache abfallen, sondern sie sind in erster Linie Dialekte “voneinander”. Eine Standardsprache bildet sich immer auf der Basis bestehender dialektaler Variation heraus; und erst nachdem sie etabliert ist, werden die Dialekte zum “Substandard”.
- Allermeist ist der Standard, die “hochsprachliche Norm”, nichts weiter als einer der Dialekte, der es aus politischen Gründen zur Hochsprache gebracht hat. Das ist etwa der Fall des Kastilischen in Spanien und des Pariser Dialekts im Französischen. In solchen Fällen ist die Standardsprache um nichts archaischer (geschweige “klassischer”) als die anderen Dialekte. Vgl. auch die Fußnote zur hochdeutschen Lautverschiebung.
- Manchmal wird die Standardsprache auch durch Normierung unter Berücksichtigung mehrerer Dialekte geschaffen. Standarditalienisch ist z.B. lingua toscana in bocca romana “toskanische Zunge in römischem Mund” (das will i.w. sagen: florentiner Lexikon und Grammatik mit römischer Phonologie und Phonetik). Der Fall des Standarddeutschen (üblicherweise Hochdeutsch genannt) ist ähnlich kompliziert. Es entwickelte sich erst in der frühen Neuzeit als lingua franca in Deutschland auf der Basis von um Thüringen herum benutzten Kanzleisprachen. Die Phonologie ist, grob gesprochen, aus oberdeutschem Konsonantismus und mittel- bis niederdeutschem Vokalismus zusammengesetzt. Hochdeutsch ist also ein Kunstprodukt, das bis ins 20. Jh. hinein niemandes Muttersprache war und auch heute nur von wenigen gesprochen wird. (Schauspieler und Nachrichtensprecher z.B. lernen es.)
Die Normierung einer Sprache, also die Ausarbeitung und Kodifikation einer Norm und somit die Schaffung einer Standardsprache, ist die zentrale Aufgabe der Sprachplanung. Sie hat in erster Linie politische Gegebenheiten zu berücksichtigen. Im Maße des Möglichen gelten dann weiter linguistische Gesichtspunkte. Z.B. sind die Dialekte einer Sprache oft verschieden archaisch (konservativ). Dann ist es (soweit machbar) sinnvoll, den archaischsten Dialekt der Standardsprache zugrundezulegen, weil Sprecher verschiedener Varietäten einer Sprachgemeinschaft aus Gründen, die mit der Richtung der Grammatikalisierung zu tun haben, archaischere Formen leichter adaptieren als progressive.
Architektur der Sprache
Die Gesamtheit des Aufbaus einer Sprache aus Varietäten nach all diesen Dimensionen nennt sich ihre Architektur.– Der Sprachschatz, über den ein einzelner verfügt, genannt Idiolekt, steht außerhalb dieser Systematik. Denn er ist typischerweise dadurch charakterisiert, daß das Individuum Ausschnitte aus verschiedenen Varietäten beherrscht in Abhängigkeit davon, an welchen Arten von Kommunikationssituation in der Sprachgemeinschaft es teilnimmt. Der Idiolekt ist daher nicht, wie gelegentlich vermeint wird, die elementare Größe eines Sprachsystems. Er ist im Gegenteil notwendigerweise unsystematisch, da er unterschiedliche Varietäten in sich vereinigt.
Einführung in diese Thematik für ein Laienpublikum: Lehmann, “Architektur der Sprache”
Weiterführendes zum Thema ‘Sprachliche Variation’, inkl. sprachliche Moden.
1 Diglossie ist zwar als morphematisches Übersetzungsäquivalent zum lateinischen Bilinguismus gebildet worden, bedeutet aber etwas anderes.
2 Eine Websuche nach Unterschieden zwischen Frauen- und Männersprache fördert tausende von Seiten zutage. Die meisten kultivieren peinliche Klischees wie die angebliche Indirektheit weiblicher Kommunikation oder die Neigung von Männern zu Befehlen und Kraftausdrücken, oder sie propagieren einfach feministische Ideologie. Eine linguistische Analyse empirisch gewonnener Daten, die die männlichen und weiblichen Sprachsysteme miteinander vergliche, wäre erste Voraussetzung, wenn die Rede von Männer- und Frauensprache im Deutschen Substanz haben soll.
3 In diesem Zusammenhang wird das Bonmot, das spätestens auf Max Weinreich und Joshua Fishman zurückgeht, immer wieder gern zitiert: “A language is a dialect with an army and a navy.”