Sprachwandel ist nicht etwas, was in früheren Jahrhunderten einmal stattgefunden und jetzt, da wir einen stabilen Zustand erreicht haben, aufgehört hat. Sprachwandel findet in jeder Sprache jederzeit statt. Er ist aber auch nicht etwas, was gleichsam hinter unserem Rücken passiert und wogegen wir nichts ausrichten können. Er ist im Gegenteil in gewisser Hinsicht in Reichweite jedes Sprechers. Jeder Sprecher kann sich, wenn er eine Neuerung hört, entscheiden, ob er sie übernimmt und ob er eine Mode mitmacht oder ob er sich dagegen stemmt und konservativ bleibt. Seit etwa 1980 bemühen sich größere gesellschaftliche Gruppen in der deutschen Sprachgemeinschaft, das deutsche Genussystem in dem Sinne zu ändern, daß das Maskulinum bei menschlichen Substantiven ausschließlich männliche Lebewesen bezeichnet und daß man, wenn man sich auf weibliche Personen beziehen will, feminine Substantive benutzen muß. Nun ist das Sprachsystem komplexer, als politisch korrekt inspirierte Laien durchschauen, und deshalb ist eine solche Änderung nicht gelungen und kann auch nicht gelingen. Aber das Beispiel zeigt, daß Sprachwandel durchaus bewußt und aktiv betrieben werden kann.
Sprachwandel ist die diachrone Erscheinungsform der Variation. Sämtliche Formen des Wandels, die in den Abschnitten über phonologischen, semantischen, lexikalischen und grammatischen Wandel dargestellt wurden, haben ihr Gegenstück in Formen der synchronen Variation. Es ist wichtig, hier nicht in die Falle des Henne-Ei-Problems zu laufen: Sprachtätigkeit läuft in der Zeit ab. Die Perspektiven der Simultaneität und der Sukzession sind damit automatisch beide gegeben, für den Sprecher wie für den Linguisten. Synchronie und Diachronie sind, wie eingangs gesagt, alternative methodische Perspektiven, die der Linguist nimmt, nicht Abteilungen seines Gegenstandsbereichs (der Sprache). Es gibt folglich in der Linguistik, wiewohl verschiedene Linguisten das immer wieder behauptet haben, keinen Vorrang der Synchronie vor der Diachronie oder umgekehrt.
Die Sprache funktioniert in jedem Augenblick eigentlich recht gut. Die ständig stattfindenden Wandel führen – darin sind sich die Laien und die Sprachwissenschaftler ausnahmsweise einig – auch nicht zu ihrer Verbesserung. Fast keinen der Sprachwandel, mit denen wir im Laufe unseres Lebens konfrontiert sind, haben wir selbst initiiert. Daher wird immer wieder die Frage gestellt, warum die Sprache sich überhaupt wandelt und warum sie nicht statt dessen so bleibt, wie sie ist. Insbesondere wenn es zutrifft, daß die Sprache ein System ist, sollte man eher erwarten, daß sie stabil bleibt, als daß sie sich ändert.
Man kann hier zunächst darauf hinweisen, daß die Sprache nicht ein abgekapseltes Dasein führt, sondern eingebettet ist in eine Welt, die sich ihrerseits ändert und daher der Sprache neue Aufgaben und Bedingungen stellt. Es sind nicht nur trivialerweise immer neue Denotata zu bezeichnen und neue Begriffe zu bilden – das würde ja insoweit lediglich zu einer Bereicherung des Lexikons führen –, sondern es entstehen auch neue Wege der Kommunikation zwischen Menschen, z.B. über das Telefon, die E-Post und SMS.
Dies alles trifft zu und ist auch tatsächlich für einen Teil des stattfindenden Sprachwandels verantwortlich. Aber das Argument greift noch zu kurz. All diese Umstände führen ja nicht dazu, daß die Grammatik und das Lautsystem sich ändern. Das Problem ist grundsätzlicherer Natur. Sprache ist eine menschliche Tätigkeit, und zwar eine, die in das soziale und kulturelle Leben einer Sprachgemeinschaft eingebunden ist. Wir gestalten solche sozialen und kulturellen Tätigkeiten immer neu, denn es sind eben keine fertigen Dinge, sondern Tätigkeiten. Die Weisen, auf die sie jeweils gestaltet werden, sind durchaus auch Moden unterworfen, die in vielen gesellschaftlichen Bereichen herrschen. Auch der Sprachwandel ist zum Teil eine Frage der Mode. Nicht jede Neuerung setzt sich fest; viele Ausdrücke, aber auch Konstruktionen, sind eine Zeitlang im Schwange und geraten dann wieder in Vergessenheit.
Sub specie aeternitatis dreht sich viel stattfindender Sprachwandel auch im Kreise. Ein handgreifliches Beispiel sind die immer neuen Euphemismen für Tabubegriffe. Das gleiche gilt aber auch in der Grammatik. In den romanischen Sprachen wird derzeit zum dritten Male in historischer Zeit das Futur erneuert: lat. cantabo “ich werde singen” ist standardfranzösisch (je) chanterais ist umgangsfranzösisch (je) vais chanter. Jedes Mal wird ein ehemaliges Vollverb als Hilfsverb zur Bildung einer periphrastischen Konstruktion rekrutiert, und diese wird weiter zu einem gewöhnlichen Futur grammatikalisiert. Das Ergebnis entspricht funktionell und im Falle von chanterais sogar auch strukturell hundertprozentig dem, was ersetzt wurde. Auf lange Sicht ist nichts gewonnen oder auch nur wesentlich geändert. (Wohlgemerkt: das gilt nicht für allen Sprachwandel!)
Die Sprache unterscheidet sich freilich von vielen anderen soziokulturellen Phänomenen, etwa der Bekleidung oder der Musik, dadurch, daß sie gleichzeitig zielgerichtet und hochgradig komplex ist. Die Zielgerichtetheit besagt, daß wir uns in erster Linie miteinander verständigen wollen und daß wir deshalb vom Usus nur so weit abweichen können, wie es die Verständigung nicht gefährdet. Zudem stehen auch die einzelnen sprachlichen Funktionen, also etwa die futurische Referenz, in einer teleonomischen Hierarchie, wo die Möglichkeiten in der Natur der Sache liegen und die Variation also nicht beliebig ist. Daß so viel Sprachwandel doch immer wieder zu gleichen oder mindestens isofunktionellen Ergebnissen führt, beweist insofern nur, daß die Sprache in der Tat hochgradig systematisch, aber eben kein statisches, sondern ein dynamisches System ist.
Die Komplexität besagt, daß die Eigenschaften, die insgesamt den Bau einer Sprache ausmachen, miteinander zusammenhängen. Man kann nicht leicht ceteris paribus an einer Stelle etwas auswechseln. Z.B. werden wir im Deutschen auf mittlere Sicht (mindestens in den nächsten 100 Jahren) keinen lexikalischen Ton bekommen, weil die Voraussetzungen dafür im phonologischen System nicht gegeben sind. Ebensowenig kann es gelingen, die Genera mit der Bedeutung “Sexus” zu versehen, weil sie dazu längst viel zu stark grammatikalisiert sind. Es wäre auch nicht möglich – nach Vorbildern wie nach meiner Meinung ~ meiner Meinung nach –, die deutschen Präpositionen fortan als Postpositionen zu konstruieren, also z.B. Erfurt nach statt nach Erfurt zu sagen. Durch den hohen Grad an Komplexität und Konnexität, den das Sprachsystem aufweist, ist es in hohem Maße dem verändernden Zugriff des Einzelnen und sogar der ganzen Sprachgemeinschaft entzogen und gegen willkürliche Eingriffe geschützt.
Daher gibt es schließlich auch Gesetze des Sprachwandels ganz ebenso, wie es Gesetze gibt, die über allen Sprachsystemen walten. Hier sind zwei Beispiele:
- Bevor eine Sprache sich vordere gerundete Vokale zulegt, muß sie hintere gerundete Vokale haben. Und umgekehrt, bevor sie die hinteren gerundeten Vokale verliert, muß sie etwaige vordere gerundete Vokale aufgeben.
Vordere gerundete Vokale ([y ø] usw.) haben sich im Laufe der jüngeren Sprachgeschichte z.B. das Deutsche und Französische zugelegt. Aber sie hatten zuvor die entsprechenden hinteren runden Vokale ([u o] usw.). Wieder aufgegeben haben die vorderen gerundeten Vokale eine Reihe deutscher Dialekte, darunter das Jiddische und das Schlesische. Aber die hinteren gerundeten Vokale haben sie behalten. - Bevor eine Sprache sich einen Dual zulegt, muß sie erst einmal einen Plural haben. Und bevor sie den Plural aufgibt, muß sie erst einmal den Dual loswerden.
Sprachen, die sich zu historischer Zeit einen Dual zugelegt haben, sind nicht bekannt. Aber eine Reihe von Sprachen, darunter Griechisch und Litauisch, haben zu historischer Zeit den Dual aufgegeben, den Plural jedoch behalten.
Solche diachronen Gesetze sind, wie angedeutet, bloß diachrone Formulierungen synchroner Gesetze, die den Aufbau von Komplexität im Sprachsystem betreffen. Solche kommen im Abschnitt über vergleichende Sprachwissenschaft zur Sprache.
Anttila 1989, Boretzky 1977, Bynon 1981, Jeffers & Lehiste 1979.