Wie im Abschnitt über die Funktionen der Sprache zu sehen ist, hat Sprache eine wesentliche soziale Dimension. Als soziale Tätigkeit ist sie in das Leben der Sprachgemeinschaft eingebettet. Folglich ist jede Sprache eine historische Ausprägung des langage. So wie sich die Sprachgemeinschaft und ihre Kultur wandeln, so wandelt sich auch die Sprache. Der Wandel gehört zum Wesen der Sprache. Er ist nicht etwas Äußerliches in dem Sinne, daß die Sprache zuvörderst ein System wäre und dieses gelegentlich vom Wandel gestört würde. Eine Sprache existiert dadurch, daß sie sich ständig wandelt.
Sprachwandel geht in kleinen Schritten vor sich. Natürlich wandelt sich nicht innerhalb kurzer Zeit das ganze Sprachsystem. Im Zeitraum eines Jahrhunderts werden vielleicht nur eine Handvoll von Konstruktionen erneuert und eine kleine Klasse von Lauten verschoben. So kommt es, daß der laufende Sprachwandel sich dem Bewußtsein der meisten Sprecher entzieht. Sie haben das Gefühl, immer dieselbe Sprache zu sprechen. Daran ist sogar insofern etwas Richtiges, als viele Menschen auf ihre alten Tage konservativ werden und sich dem sprachlichen Wandel, der von den Jüngeren betrieben wird, dann wirklich nicht mehr anpassen. Aber jeder alte Mensch, der tatsächlich sprachlich konservativ ist, kann eo ipso im Vergleich seiner Redeweise mit der seiner Enkel feststellen, daß sich die Sprache in der Tat gewandelt hat.
Eine Sprache ist also stets heterogen in dem Sinne, daß Strukturen, welche seit Jahrhunderten dieselben sind, neben solchen stehen, die gerade in Mode gekommen sind. Das, was also im Laufe der Zeit als Wandel erscheint, erscheint in der Sicht eines gegebenen Moments als Variation. Wandel und Variation sind die zwei Seiten einer Medaille; beide gehören zum Wesen der Sprache, keine hat Vorrang vor der anderen.
Und ebenso, wie in allen Komponenten des Sprachsystems und auf allen Ebenen Variation herrscht, so betrifft auch der Sprachwandel alle Aspekte des Sprachsystems und seines Gebrauchs. Es ist daher üblich, die Beschreibung des Sprachwandels auf dieselbe Weise einzuteilen wie die Beschreibung des Sprachsystems. Daher gibt es hier die folgenden Abschnitte:
- phonologischer Wandel
- semantischer Wandel
- lexikalischer Wandel
- grammatischer Wandel.
Zu dieser Einteilung ist vorab zu bemerken, daß sie theoretisch begründet ist. In der Sprachgeschichte treten allerdings diese Arten von Wandel so wie auch ihre Subtypen nicht notwendigerweise isoliert auf, sondern gehen typischerweise Hand in Hand. So kann ein historischer Fall von Sprachwandel, systematisch analysiert, gleichzeitig ein Fall von phonologischem und semantischem Wandel sein.
Will man einen Gegenstand, der sich ständig wandelt, beschreiben, steht man vor einem ähnlichen Problem, als wollte man einen Film analysieren. Man hat die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten:
- Man hält den Film in einem bestimmten Moment an, macht also eine Einzelbildprojektion und analysiert nur das eine Bild.
- Man zeichnet den Verlauf des Films nach.
In der ersten Perspektive kann man die wahrnehmbaren Einzelheiten erschöpfen und ihre Relationen zueinander präzise beschreiben. Das erkauft man freilich um den Preis einer sehr partiellen Sicht, welche – falls sie sich denn überhaupt für die intrinsische Dynamik des Gegenstands interessiert – bestenfalls erkennen kann, was soeben geschehen ist, und vermuten kann, was als nächstes passieren wird, aber die gesamte Entwicklung nicht in den Blick bekommt. Dieses kann in der zweiten Perspektive gelingen. Aber die dynamische (und der Idee eines Films eigentlich eher angemessene) Sicht erkauft man um den Preis, daß man nicht systematisch beschreiben kann, wie die diversen Handlungsstränge parallel laufen und was also gleichzeitig anderswo der Fall ist. Man konzentriert sich vielleicht auf die Haupthandlung und läßt Nebenschauplätze außer Betracht.
Die beiden Perspektiven nennen sich in der Linguistik Synchronie und Diachronie. Sie werden im nächsten Abschnitt erläutert.