Sprache ist das unbeschränkte Schaffen interpersonal verfügbarer Bedeutungen. Daraus resultiert als wichtige Eigenschaft der menschlichen Sprache die Effabilität, also die Möglichkeit, alles zu sagen. Hieraus wiederum folgt die Situationsentbundenheit menschlicher Sprache. Tiere kommunizieren, soweit bekannt, ausschließlich über Dinge, die in der “Sprech”situation oder mindestens auf diese bezogen sind; für menschliche Sprache gilt eine solche Einschränkung nicht. Insbesondere kann man auch lügen; und für diese Fähigkeit gibt es sogar einen Fachterminus, Prävarikation. Nach zoosemiotischen Erkenntnissen (Byrne 1995) haben freilich auch Tiere diese Fähigkeit. Z.B. locken Hähne Hennen mit dem Futterruf an, auch wenn sie gar nichts gefunden haben, und zwar zwecks Kopulation. Schimpansen markieren, wenn sie einen Kampf nicht aufnehmen wollen, Verletzungen. Dies sind freilich “situationsgebundene” Lügen. Unabhängig von der Frage, zu welchem Grade die menschliche Sprache in tierischen Kommunikationssystemen schon vorbereitet ist, gilt für erstere jedenfalls, daß zwischen Sprache und Welt das Denken steht.
Der Anforderung der Effabilität genügt die menschliche Sprache durch die zweifache Gliederung. Daß diese zu diesem Zweck nötig ist, sieht man, wenn man die Funktionsweise von Zeichensystemen untersucht, denen sie fehlt.
- Bei einem Zeichensystem ohne Gliederung ist jede Nachricht holistisch, also nicht zusammengesetzt aus Bestandteilen, die in regelmäßig entsprechender Weise auch in anderen Nachrichten vorkommen. Das gilt für viele tierische Kommunikationssysteme, etwa die Rufe von Affen und Vögeln. Ein Beispiel aus dem menschlichen Bereich ist das Internationale Flaggenalphabet, das derzeit in der Seefahrt gebräuchlich ist. Es enthält einen endlichen Vorrat an Nachrichten, die man senden kann, sowie eine ebenso große Anzahl von Flaggen, die sich in Form, Farbe und Muster unterscheiden. Jede Nachricht wird durch das Aufziehen einer Flagge übermittelt. In allen solchen Fällen ist die Menge der übermittelbaren Nachrichten gleich dem Umfang des Codes. Das bedeutet aber auch, daß die Menge nicht erweiterbar ist.
- Ein Beispiel eines Zeichensystems ohne zweite Gliederung wäre z.B. eine ideographische Schrift, d.i. eine solche, die nur sprachunabhängige Begriffe repräsentiert. Die archaischen chinesischen und sumerischen Schriftsysteme kommen diesem Ideal nahe. Die Zeichen sind global voneinander verschieden. Man kann daher neue Zeichen nur durch Zusammensetzung von vorhandenen bilden; Abwandlung von vorhandenen Zeichen ist ausgeschlossen. Der Zeichenvorrat ist beschränkt. Würde man die Tausende von verschiedenen Begriffen, die tatsächlich zur Kognition und Kommunikation gebraucht werden, nur durch solche Zeichen repräsentieren, würden sie kein System, sondern nur einen Haufen von schwer unterscheidbaren Zeichen bilden.
- Ein Zeichensystem ohne erste Gliederung war das Flaggenalphabet, welches Anfang des 20. Jh. in der Seefahrt gebräuchlich war. Im Unterschied zu dem zuvor beschriebenen und jetzt gebräuchlichen System umfaßt dieses auf der Ausdrucksseite eine relativ kleine Anzahl von verschiedenfarbigen Flaggen, die je für sich keinen Sinn haben, also lediglich distinktiv sind. Jede Nachricht wird durch eine verschiedene Kombination der Flaggen symbolisiert. Wenn zwei Nachrichten inhaltliche Gemeinsamkeiten haben, entspricht dem keine Gemeinsamkeit im Ausdruck. Auch ein solches System ist nicht erweiterbar.
Das Fazit dieser kurzen Betrachtung ist jedenfalls, daß solche Zeichensysteme keine Effabilität haben. Ob es neben der zweifachen Gliederung andere Möglichkeiten gibt, dem Erfordernis zu genügen, bleibt hier dahingestellt.
Als nächstes ist kurz auf die für menschliche Sprache geeigneten Medien einzugehen. Die relevanten physikalischen und physiologischen Grundlagen dieser Medien sind
- der Übertragungskanal
- die zur Erzeugung und Aussendung von Nachrichten eingesetzten Organe
- die zur Aufnahme von Nachrichten eingesetzten Organe, also die fünf Sinne des Menschen.
Die Kriterien der Eignung dieser Komponenten beziehen sich auf die Verarbeitung von Einheiten der zweiten Gliederung. Es sind i.w. die folgenden:
- Möglichkeiten der Differenzierung der Elemente und der Komplexität der Nachricht
- Effizienz in der Kodierung/Übertragung/Dekodierung.
Man sieht auch ohne eingehendere Argumentation, daß der Geruchs- und der Geschmackssinn des Menschen nach diesen Kriterien ausscheiden. Die anderen drei Sinne werden tatsächlich zur Übermittlung von Sprache benutzt, und zwar in der Hierarchie 'Gehör - Gesicht - Tastsinn'.
Für auditive Signale ist der Übertragungskanal die Luft. Sie überträgt den Schall sogar noch in Bereichen und in Granularitätsabstufungen, die für den Menschen weder erzeugbar noch wahrnehmbar sind, und sie überträgt ihn ohne nennenswerten Verzug; d.h. sie ist für den Zweck mehr als ausreichend. Die Artikulationsorgane des Menschen reichen aus, um Nachrichten der notwendigen Komplexität mit angemessener Differenzierung zu erzeugen und in angemessener Geschwindigkeit auszusenden. Das menschliche Gehör hinwiederum ist in den relevanten Dimensionen fein genug, um die Unterschiede und die Komplexität zu apperzipieren, und der Gang bis zum Verstehen ist, mindestens solange die Aufmerksamkeit wach ist, auch schnell genug, um alles Gesandte mitzubekommen. Das Medium hat auch eine Reihe von Nachteilen:
- das Signal ist flüchtig,
- es kann (mindestens insoweit es von Menschen verarbeitbar ist) keine großen Entfernungen überbrücken,
- es steht im Ohr in Konkurrenz zu gleichzeitig gesandten Signalen,
- weder die Sende- noch die Empfangseinrichtung können präzise ausgerichtet werden.
Diese wiegen aber offenbar nicht schwer genug, um diesem Medium den ersten Platz grundsätzlich streitig zu machen, wenn sie auch im Einzelfall dazu führen, daß man sich des nächstbesten Mediums bedient.
Das ist das visuelle Medium. Der Übertragungskanal ist das Licht, und auch dieses hat größere Kapazität in der Differenzierung, Komplexität und Übertragungsgeschwindigkeit, als Menschen brauchen. Menschen können freilich keine optische Strahlung erzeugen, sondern müssen zwecks Nachrichtenübertragung Gegenstände herstellen, die Licht in der erforderlichen Weise reflektieren. Das hat den Nachteil, daß die Erzeugung von Nachrichten relativ lange dauert – und dies ist in der Tat der Hauptnachteil der Schrift – und den Vorteil, daß die Nachrichten lange erhalten bleiben und über große Entfernungen übermittelt werden können. Diese Weise der Nachrichtenerzeugung ist übrigens auch den Fähigkeiten der zugeordneten Wahrnehmungsorgane angepaßt: wir können statische Objekte hoher Komplexität und Differenziertheit entziffern, können allerdings weniger gut rasche Veränderungen sehen. Das visuelle Medium hat im übrigen keinen der Nachteile, die das auditive hat, dafür jedoch den Nachteil, daß die Wahrnehmungsorgane zwangsweise gerichtet sind (wir sehen jemanden nur dann winken, wenn wir hingucken). Es besetzt offensichtlich wegen der umständlichen Nachrichtenerzeugung den zweiten Platz, wird aber oft wegen seiner Vorteile – lange Haltbarkeit und Überbrückung von Entfernungen – bevorzugt.
Das taktile Medium spielt in der Kommunikation von Gesunden, abgesehen von Handküssen, Schulterklopfen u.ä., eine geringe Rolle. Für Blinde dagegen sind Brailleschrift und für Taubblinde das Tastalphabet nach dem unzugänglichen auditiven bzw. visuellen Medium die nächstbeste Lösung. Das Medium ist in jeder Hinsicht schlechter geeignet, was hier nicht im einzelnen ausgeführt wird. Nichtsdestoweniger ist seine Leistung für die Übermittlung menschlicher Sprache noch hinreichend.
Diese Überlegungen begründen die genannte Hierarchie der Medien für die Zwecke menschlicher Sprache.
Byrne, Richard W. 1995, The thinking ape. Evolutionary origins of intelligence. Oxford etc.: Oxford University Press (reprint 2001).