Einleitung
Die kontrastive Linguistik (gelegentlich auch “konfrontative Linguistik”) vergleicht normalerweise genau zwei Sprachen L1 und L2 miteinander mit dem obersten Erkenntnisziel, die beste Strategie zum Lernen und Lehren von L2 für Sprecher von L1 zu entwickeln. Sie ist also eine Disziplin der angewandten Linguistik. Der Weg zum obersten Ziel ist die Festellung von Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen den beiden Sprachsystemen. Pädagogische Grammatiken und Wörterbücher bauen auf solchen Informationen auf. Die einfachste Voraussetzung dabei ist, daß diejenigen Eigenschaften von L2, welche nicht anders sind als in L1, als relativ selbstverständlich behandelt werden können, während die verschiedenen Eigenschaften größeren Darstellungsaufwand erfordern.
Beispiele
Als erstes Beispiel kontrastieren wir kurz das englische und deutsche Vokalsystem:
Kurzvokale | Langvokale | Diphthonge | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
|
|
|
Kurzvokale | Langvokale | Diphthonge | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
|
|
|
Es gibt ein paar Eigenschaften, die Englisch und Deutsch gemeinsam von vielen anderen Sprachen unterscheiden:
- Es gibt kurze und lange Vokale sowie Diphthonge. (Viele Sprachen haben keine Langvokale, einige nicht einmal Diphthonge.)
- Die Kurzvokale sind ungespannt, die Langvokale gespannt. Mehrere der Kurzvokale sind leicht offenere und zentralisierte Gegenstücke der entsprechenden Langvokale.
- Zusätzlich zu den peripheren Vokalen haben beide Sprachen ein Schwa, welches als Neutralisationspunkt peripherer Vokale fungiert.
Andererseits sieht man auf den ersten Blick, daß das englische Vokalsystem wesentlich komplexer ist als das deutsche. Angenommen, Englisch ist L2. Dann ist u.a. folgendes zu beachten:
- Es gibt kein [a]; an der Stelle im Phonemsystem steht ein [æ]. Dieses ist phonetisch vom [ɛ] zu unterscheiden.
- Es gibt ein [ʌ], das im Deutschen überhaupt kein Gegenstück hat und insbesondere nicht wie das deutsche /a/ klingt.
- Es gibt zwei zusätzliche Diphthonge, die freilich normalerweise keine Artikulationsprobleme machen.
Eine weitergehende Analyse würde noch feine phonetische Unterschiede zwischen einigen Vokalen herausarbeiten, die im Englischen und Deutschen durch dieselben IPA-Symbole dargestellt werden. Im nächsten Schritt werden Hypothesen über Schwierigkeiten deutscher Lerner entwickelt, die mit unabhängigen Methoden wie z.B. solchen der Fehlerlinguistik überprüft werden können. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen gehen schließlich in Sprachlehren ein.
Ein Beispiel aus der Grammatik wäre das Tempus-/Aspektsystem des Deutschen und Englischen. Die folgende Tabelle führt in der linken Spalte einige von diesem System zu erfüllende Funktionen und in den folgenden Spalten die Kategorien des Englischen und Deutschen auf, die diese Funktionen erfüllen.
Funktion | Englisch | Deutsch |
---|---|---|
atelische Hintergrundsituation | Progressiv | unmarkiertes Tempus |
unmittelbare Zukunft | immediates Futur | Präsens |
in der Vergangenheit begonnene und noch nicht abgeschlossene Situation | Perfekt | Präsens |
in der Vergangenheit abgeschlossene, zum Sprechzeitpunkt relevante Situation | Präteritum | Perfekt |
‘Unmarkiertes Tempus’ bedeutet hier “Präsens oder Präteritum”.
Diese Aufstellung ist entfernt nicht systematisch. Man entnimmt ihr aber zwei zentrale Punkte:
- Das englische System ist reichhaltiger, insofern es einen Progressiv und ein immediates Futur enthält. Der deutsche Lerner muß also die von diesen Kategorien erfüllten Funktionen identifizieren und auf markierte Weise ausdrücken lernen.
- Die englischen und deutschen Tempus-/Aspektkategorien tragen zwar teilweise denselben Namen, erfüllen jedoch sehr verschiedene Funktionen. Das gilt insbesondere für Perfekt und Präteritum. Der Deutschsprecher muß lernen, daß die meisten im Deutschen vom Perfekt erfüllten Funktionen im Englischen vom Präteritum erfüllt werden.
Als Beispiel aus der Phraseologie und Pragmatik kann schließlich das System der Grußformeln im Deutschen und Englischen dienen. Die relevanten pragmatischen Parameter sind u.a. der Grad der Distanz zwischen den Sprechaktteilnehmern und die Tageszeit. Bei jeweils in den Sprachgemeinschaften unterschiedlich geregelter Mindestdistanz wünscht man sich die Tageszeit zur Begrüßung. Es beginnt morgens in beiden Sprachen mit guten Morgen bzw. good morning. Dieser Gruß wird im Deutschen gegen Mittag (jedoch regional durchaus verschieden) von guten Tag abgelöst. Im Englischen dagegen verstreicht der Mittag, bis man auf good afternoon umstellt. Vom Sonnenuntergang an geht es dann wieder parallel mit guten Abend / good evening und gute Nacht / good night weiter. In beiden Sprachen verwendet man den letzteren Gruß nur zur Verabschiedung. Würde man noch Spanisch zum Vergleich beiziehen, ergäbe sich, daß man hier buenas noches, wörtl. “gute Nächte”, sagt in den Situationen, wo im Deutschen und Englischen guten Abend / good evening gesagt wird, während man zur nächtlichen Verabschiedung que descanses “schlaf gut” sagt.
Fazit
Die kontrastive Linguistik ist anfangs gelegentlich theoretisch und methodisch unbedarft betrieben worden. Man verglich aufs Geratewohl strukturell ähnliche Teilsysteme zweier Sprachen und zählte die Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. In Sprachtätigkeit engagierte Menschen wollen aber nicht Strukturkategorien realisieren, sondern Sinn machen, also sprachliche Funktionen erfüllen. Es ist also eine Theorie der sprachlichen Funktionen vorauszusetzen, welche gleichzeitig die Tertia Comparationis für den Vergleich vorgibt.
Die Zielsetzung der kontrastiven Linguistik ist von der der Sprachtypologie völlig verschieden. Sie will nicht die Vielfalt der Sprachen der Welt einer systematisch fundierten Menge von Typen zuordnen, sondern möglichst effiziente Lehr-Lern-Materialien von L2 für Sprecher von L1 entwickeln. Aber die Grundlage, auf der Sprachen überhaupt verglichen und die Eigenheiten einer Sprache eingeschätzt werden können, ist dieselbe. Die kontrastive Linguistik der Mitte des 20. Jh. ist deswegen weniger erfolgreich als erhofft gewesen, weil ihr diese Grundlage fehlte. Die kontrastive Linguistik läuft vollends auf etwas Ähnliches wie die typologische Charakterisierung einer Sprache hinaus, wenn Sprachlehren einer Sprache für Lerner beliebiger Muttersprache abgefaßt werden sollen, so wie sie z.B. in den im Inland erteilten Sprachkursen für Ausländer dem Unterricht zugrundegelegt werden.