Um die genetische Verwandtschaft von Sprachen zu erweisen, eine Sprachfamilie aufzustellen und die gemeinsame Ursprache zu rekonstruieren, braucht man linguistische Theorien und Methoden, welche bis weit in die Neuzeit hinein nicht existierten. Die erste große Sprachfamilie, die mit wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen wurde, war die finno-ugrische. Basierend auf einschlägigen Hypothesen, die seit 1671 kursierten, erweist János Sajnovics 1770 durch eine Kombination logischer und philologischer Methoden die genetische Verwandtschaft des Ungarischen und Lappischen. Sámuel Gyarmathi weitet 1799 den Gegenstand auf alle finnischen Sprachen aus, legt erste Rekonstruktionen vor und etabliert die finno-ugrische Sprachfamilie als solche. Seitdem ist die Finno-Ugristik als wissenschaftliche Disziplin, wenn auch noch nicht als akademisches Fach begründet. Letzteres war sehr mühsam, weil es bis ins 20. Jh. hinein an Interesse in der gebildeten Öffentlichkeit fehlte.

Auf die historischen Beziehungen indogermanischer Sprachen hatte es bereits seit dem 16. Jh. Hinweise gegeben. Infolge des britischen Kolonialismus wurden Ende des 18. Jh. indische Sprache und Kultur in Europa “entdeckt”. Besonders einflußreich war die Arbeit des britischen Orientalisten Sir William Jones (1746-1794). In einem Vortrag vor der Asiatic Society von 1786 postuliert er die Verwandtschaft des Sanskrit mit den klassischen Sprachen und publiziert seine Entdeckung 1788 in der Fachzeitschrift Asiatic Researches. Jetzt fällt sie zum ersten Mal auf fruchtbaren Boden. 1808 fordert Friedrich Schlegel in Über die Sprache und Weisheit der Indier eine vergleichende Sprachwissenschaft, die historisch und typologisch vorgeht, und begründet so en passant die Indologie und die Sprachtypologie. Sein Bruder August Wilhelm von Schlegel wird 1818 an die neugegründete Universität Bonn auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Indologie berufen. Franz Bopp studiert in Paris Indologie und weist in seinem Buch von 1816 die Verwandtschaft der meisten indogermanischen Sprachen nach. 1833-52, mittlerweile weltweit erster Professor für allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Berlin, zementiert er die neuen Erkenntnisse in seiner mehrbändigen vergleichenden Grammatik.

Bopps Forschungen finden einen fruchtbaren Boden in dem romantischen Wunsch, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu verstehen. Bald allerdings beginnt, vor allem nach Charles Darwins (1859) Erfolgen, die Vorherrschaft der Naturwissenschaften. Seitdem reden die Sprachwissenschaftler von Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft und von der Sprache als “Organismus”, dessen “physische und mechanische Gesetze” zu entdecken sind. Seit Darwin die Evolution in der Natur und den Stammbaum zu deren Darstellung etabliert hatte, folgt die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft seinem Vorbild. August Schleicher führt 1860f die Stammbaumtheorie in die historische Sprachwissenschaft ein und rekonstruiert das Urindogermanische. 1871 postuliert August Leskien die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze – den Eckstein der junggrammatischen Schule – und bekräftigt somit den Anspruch der Linguistik, eine exakte Wissenschaft zu sein. Hermann Paul systematisiert und kodifiziert mit seinen Prinzipien der Sprachgeschichte von 1880, die bis heute aufgelegt werden, den junggrammatischen Ansatz. Um die Jahrhundertwende bauen die Junggrammatiker Karl Brugmann und Berthold Delbrück die vergleichende Syntax aus.

Romantischer Historismus und Volkstümelei verschaffen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft vom Beginn der Geschichte der Linguistik als wissenschaftlicher Disziplin ein Übergewicht, das bis etwa zu de Saussures Cours de linguistique générale andauert. Während dieser Zeit widmet sie sich vorwiegend der Rekonstruktion des Indogermanischen, besonders der Phonologie, Morphologie und des Lexikons. Zu Beginn des 20. Jh. ist die wesentliche Arbeit geleistet und in Brugmanns & Delbücks Grundriß für lange Zeit dokumentiert. Die Entwicklung geht nun langsamer voran. Daher fällt die neue strukturalistische Strömung auf fruchtbaren Boden.

Nichtsdestoweniger herrscht die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft wenigstens in ihrem Stammland, nämlich Deutschland, noch bis nach dem 2. Weltkrieg quantitativ vor. In der BRD gab es nach dem 2. Weltkrieg nur ein einziges Institut für allgemeine Sprachwissenschaft, in Bonn (L. Weisgerber). In den 1960er Jahren wurde dann die allgemeine Sprachwissenschaft schrittweise durch Lehrstühle ausgebaut. Um die Wende zu den siebziger Jahren erreichte mit der Hochblüte der generativen Grammatik auch der Linguistik-Boom seinen Höhepunkt. Da die finanziellen Mittel von da an begrenzt waren, ging der Ausbau der allgemeinen Sprachwissenschaft an den Universitäten großenteils auf Kosten der Indogermanistik.

Durch die erwähnte historische Konstellation in der ersten Hälfte des 19. Jh. konzentrierte historisch-vergleichende Sprachwissenschaft sich fast ausschließlich auf Indogermanistik. Es gab überhaupt keine Disziplin, die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft unabhängig von einer bestimmten Sprachfamilie betrieben hätte. Als Erkenntnisziel wurde und wird die Rekonstruktion der Ursprache, in diesem Fall des Indogermanischen angegeben, nicht etwa eine Theorie des Sprachwandels. Noch 1970 erscheint ein Buch des Titels Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft (von O. Szemerényi), das sich ausschließlich mit indogermanischen Sprachen und der Rekonstruktion des Urindogermanischen befaßt. Erst seit relativ kurzer Zeit beginnen allgemeine im Verein mit einzelsprachlichen Sprachwissenschaftlern, sich mit der empirischen Erforschung des Sprachwandels zu historischer Zeit, mit diachroner Typologie, Universalien des Sprachwandels usw. zu befassen. Die Indogermanistik steht dem nach wie vor ziemlich fern.

Literaturhinweise

Bopp, Franz 1816, Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache. Nebst Episoden aus dem Ramajana und Mahabharata in genauen metrischen Übersetzungen aus dem Originaltexte und einigen Abschnitten aus den Vedas. Herausgegeben und mit Vorerinnerungen begleitet von Dr. K.J. Windischmann. Frankfurt/M: Andreäsche Buchhandlung (Repr.: Hildesheim & New York: Olms (Documenta semiotica - Serie 1: Linguistik), 1975).

Bopp, Franz 1833-52, Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altslawischen, Gothischen und Deutschen. 6 Abteilungen: I: 1833; II: 1835; III: 1837; IV: 1842; V: 1849; VI: 1852. Berlin: F. Dümmler (2. ganzlich uberarbeitete Auflage: 1857-1861; 3. Auflage : 1868-1870).

Brugmann, Karl & Delbrück, Berthold 1897ff, Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Strasbourg: Karl J. Trübner.

Darwin, Charles 1859, On the origin of species by means of natural selection - or the preservation of favored races in the struggle for life. London: J. Murray.

Paul, Hermann 1880, Prinzipien der Sprachgeschichte. Halle: Niemeyer

Schlegel, Friedrich 1808, Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Nebst metrischen Übersetzngen indischer Gedichte. Heidelberg: Mohr & Zimmer (Amsterdam: J. Benjamins (ASTHoLS, Ser.1, vol. 1), 1977).

Schleicher, August 1861f, Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Kurzer Abriß der indogermanischen Ursprache, des Altindischen, Alteranischen, Altgriechischen, Altitalischen, Altkeltischen, Altslawischen, Litauischen, und Altdeutschen. 2 Bde. Weimar: H. Böhlau (4. Auflage: 1876).