Die Phase der Reifung, also die Spanne zwischen Geburt und Erwachsensein, ist beim Menschen ungewöhnlich lang, sowohl im biologischen Vergleich als auch im Vergleich zur Gesamtlebensdauer des Individuums. Unmittelbar nach der Geburt (und erst recht als Embryo) ist ein Lebewesen besonders plastisch (“formbar”). Die Plastizität nimmt während der Reifung ab. In manchen Bereichen endet sie mit der Reifung. Das Lebewesen erstarrt dann in dem erreichten Zustand.
Plastizität gibt es in vielen Bereichen.1 Durch Sport im Kindesalter kann man die Beweglichkeit gezielt ausbauen. Das menschliche Gehirn bleibt bis zur Pubertät plastisch, sowohl im kortikalen wie im neuronalen Maßstab. Ersteres besagt, daß die Funktionen ausgefallener Hirnregionen von anderen übernommen werden können, letzteres (die Neuroplastizität) besagt lediglich, daß man lernen kann.
Vieles, was wir wahrnehmen, hat keine natürlichen Grenzen; solche werden vielmehr erst durch menschliche Kategorisierung in die Perzepte eingezogen. Die Kategorisierung erleichtert uns die Weiterverarbeitung und Kontrolle der Perzepte. Wir lernen sie daher früh. Die Kategorien werden fest, und es wird dann schwer, alternative Kategorisierungen zu lernen. Dies gilt sogar auf der bewußten Ebene, wie man an der Zähigkeit von Stereotypen sieht. Es gilt erst recht auf der unbewußten Ebene, wo einmal eingebrannte Kategorien fast nicht mehr geändert werden können. Die Phonetik ist ein klares Beispiel: Die wenigsten Erwachsenen, die eine Fremdsprache lernen, bringen es zu einer akzentfreien Aussprache.
Ein Kind lernt seine Muttersprache in wenigen Jahren vollständig und mühelos handhaben. Es lernt auf dieselbe Weise auch mehrere Mutter- und Vatersprachen gleichzeitig. Es lernt auch im Kindergarten- und Schulalter noch Fremdsprachen akzentfrei sprechen, falls es nur genug Gelegenheit bekommt. Diese Fähigkeit verliert sich bei den meisten Menschen mit der Reifung, also beim Ende der Pubertät.2 Es gibt also für das Sprachlernen eine kritische Periode, die allerdings ziemlich genau mit der Phase der Neuroplastizität zusammenzufallen scheint.
Es gibt ein paar Beispiele von Wolfskindern, die bis zum Ende der Pubertät keine Sprache gelernt hatten und danach, als sie ein menschliches Zusammenleben begannen, auch keine mehr lernten. Daraus ist der Schluß gezogen worden, daß wenn die kritische Periode verpaßt wird, die entsprechende Fähigkeit überhaupt abhanden kommt. Hieraus wiederum hat man geschlossen, daß die (frühkindliche) Erlernung einer Muttersprache Voraussetzung für den Erwerb von Fremdsprachen sei. Das alles folgt nicht. Wolfskinder sind sozial depraviert, und daß sie nachher nicht mehr eingegliedert werden können, dürfte mehr als eine Ursache haben. Und die Muttersprache behindert eher das Lernen von Fremdsprachen, als daß sie es stützte. Sie behindert es, weil, wie oben schon gesagt, die Menschen sich, je älter sie werden, desto schlechter von den Kategorien ihrer Muttersprache lösen können. Die besten Ergebnisse beim Spracherwerb erzielt man nachgewiesenermaßen, wenn man alle Sprachen vom frühesten Kindesalter an lernt.
Hier wie in vielen anderen Beziehungen gibt es erhebliche individuelle Unterschiede. Manche Menschen bleiben bis ins hohe Erwachsenenalter in jeglicher Hinsicht oder auf einem bestimmten Gebiet lernfähig, andere büßen die Lernfähigkeit in der Pubertät ein. Solche Unterschiede beziehen sich insbesondere auch auf die Fähigkeit, (Fremd-)Sprachen zu lernen. Es gibt durchaus Erwachsene, die eine Fremdsprache akzentfrei sprechen lernen. Sie haben allerdings gemeinhin höheren Aufwand als Kinder.
1 Frappante Beispiele gibt es aus dem Tierreich. Manche Tiere passen ihre Körpereigenschaften ihrer Umwelt an. Hierher gehört auch die Regenerationsfähigkeit mancher Tiere.
2 Dies ist seit Jahrtausenden bekannt, aber die okzidentalen Schulsysteme sehen bis in die jüngste Gegenwart hinein Fremdsprachenunterricht erst ab der Mittelstufe vor. Erst seit dem 21. Jh. gibt es in Deutschland Fremdsprachenunterricht in der Grundschule, aber auch da erst in der dritten Klasse. Auch bei Landtagsabgeordneten und Kultusministerialbeamten ist halt die Neuroplastizität mit der Reifung beendet.