Morphem und Allomorphie
Die Morphologie (“Formenlehre”) ist der Teil der Grammatik, der die Bildung komplexer Zeichen bis hinauf zur Wortebene behandelt. Bezogen auf die Darstellung der grammatischen Komplexitätsebenen, hat die Morphologie mit der Bildung einer Form wie gräbt aus den Elementen gräb- und -t zu tun. Aber wie diese Form im Syntagma andern eine Grube gräbt fungiert, ist nicht mehr Gegenstand der Mophologie.
Die kleinsten bedeutungstragenden Bestandteile, also Elemente wie gräb- und -t, heißen Morphe. Zwischen Morphen bestehen die gleichen paradigmatischen Beziehungen wie zwischen Phonen. Z.B. stehen gräb- und grab- in komplementärer Verteilung, denn vor den Konjugationssuffixen der 2. und 3. Ps. Sg. tritt nur gräb-, vor den anderen nur grab- auf. Folglich sind dies Allomorphe des Morphems {gra:b-}. Ein Morphem ist also eine Klasse von Allomorphen. Und Morpheme stehen zueinander in Opposition. So stehen vor -en z.B. grab- und schlaf- in Opposition; und nach grab- stehen -e und -en in Opposition. Gelegentlich gibt es zwischen zwei Morphen auch freie Variation. Z.B. ist es weitgehend gleichgültig, ob ich Lämmlein oder Lämmchen sage.
Gemäß seiner Funktion kann ein Morphem grammatisch (z.B. ein, -st) oder lexikalisch (z.B. Kormoran, werf-) sein (vgl. die Begriffe ‘lexikalisches vs. grammatisches Zeichen’). Im ersteren Fall heißt es auch Formativ. Gemäß seiner Distribution, nämlich seiner Fähigkeit, selbst als Wortform zu dienen, kann ein Morphem frei (z.B. ein, Kormoran) oder gebunden (z.B. -st, werf-) sein. Ein Morphem, das mit Derivations- und/oder Flexionsmorphemen (s.u.) versehen werden kann, heißt auch Wurzel.
Die abhängigen grammatischen Morpheme heißen Affixe. Man teilt sie nach ihrer Stellung ein:
- Ein Präfix ist ein Affix, das seinem Träger vorangeht, wie ge- in Gesuch.
- Ein Suffix ist ein Affix, das seinem Träger folgt, wie -t in sucht.
- Ein Zirkumfix ist ein diskontinuierliches Affix, das aus einem präfixalen und einem suffixalen Teil besteht, wie ge- ... -t in gesucht.
- Ein Infix ist ein Affix, das in die Wurzel seines Trägers eingefügt wird. Infixe gibt es in modernen westeuropäischen Sprachen nicht.
Gegenstand der Morphologie ist die Struktur des Wortes in beiden Bedeutungen des Terminus ‘Wort’:
- Mit der Struktur des Wortes qua Lexem befaßt sich die Wortbildung(slehre).
- Mit der Struktur des Wortes qua Wortform befaßt sich die Flexion(slehre).
Wortbildung
Ein Stamm ist der lexikalische Teil einer Wortform, der ihr Lexem repräsentiert, also nach Abzug jeglicher Flexion. Wenn man z.B. von der Konjugationsform verliefest zunächst die Personal- und Modusflexion abzieht, erhält man den Präteritalstamm verlief. Und wenn man von dem noch die Tempusflexion abzieht, erhält man den Stamm verlauf. Ein Stamm enthält notwendigerweise eine Wurzel (in diesem Falle lauf). Wortbildung ist, genau genommen, Stammbildung, also jedenfalls nicht die Bildung von Wortformen. Z.B. ist die Bildung eines abgeleiteten Substantivs wie Leitung Angelegenheit der Wortbildung. Zu ihrer Beschreibung setzen wir folgende Definition voraus:
- Verbalabstraktum oder Nomen actionis: ein Substantiv, das auf einem Verb basiert und den Verbbegriff hypostasiert.
Nun können wir die Bildung eines Substantivs auf -ung mit einiger Vereinfachung so beschreiben:
- Bilde ein Verbalabstraktum auf der Basis eines Verbstamms dadurch, daß du den Verbstamm mit dem Derivationssuffix -ung kombinierst.
- Dieses Suffix bildet Substantive von femininem Genus; folglich ist das resultierende Verbalabstraktum ein feminines Substantiv.
- Das Verbalabstraktum auf -ung bezeichnet in erster Linie den Situationskern, sekundär auch einen der Partizipanten.
So bezeichnet Leitung in erster Linie die Tätigkeit des Leitens, wie in die Leitung dieses Unternehmens ist aufreibend, dann aber auch das Agens in dieser Situation, wie in die Leitung des Unternehmens hat folgendes beschlossen, und auch ein Instrument in einer Situation des Leitens, wie in der Klempner hat eine neue Leitung gelegt.
Dieses Beispiel illustriert einen der beiden zentralen Wortbildungsprozesse, die Derivation (Ableitung). Daneben steht die Komposition (Zusammensetzung). Wir setzen folgende Definition voraus:
- Eine Konstruktion ist endozentrisch gdw sie in dieselbe Distributionsklasse wie einer ihrer Bestandteile fällt.
Nun können wir die Bildung eines Kompositums (zusammengesetzten Stamms) wie Leitbild vereinfacht wie folgt beschreiben:
- Bilde ein endozentrisches Determinativkompositum auf der Basis eines Substantivstamms dadurch, daß du diesen mit einem vorangestellten Wortstamm kombinierst.
- Das resultierende Kompositum erbt die grammatischen Eigenschaften (insbesondere das Genus) der Basis.
- Das endozentrische Determinativkompositum bezeichnet einen Unterbegriff des von der Basis bezeichneten Begriffs. Genauer: seien
x
undy
die beiden komponierten Stämme, dann ist einxy
eine durchx
näher bestimmte Art vony
.
So kann man aus den beiden Stämmen leit- und Bild das Determinativkompositum Leitbild bilden. Die Basis, Bild, ist das Determinatum; der davorgesetzte Stamm, leit-, ist das Determinans. Das ganze bezeichnet eine Art von Bild, nämlich eines, das (jemanden) leitet.
Es sei daran erinnert, daß die Produkte der Wortbildung der Lexikalisierung unterliegen. So ist eine Leitung nicht einfach ein beliebiges Instrument, das leitet, ebensowenig wie ein Leitbild ein beliebiges Bild ist, das leitet. Nach dem Kriterium der Idiosynkrasie vs. Regularität steht die Wortbildung auf halbem Wege zwischen Lexikon und Grammatik. Einerseits gibt es Prozesse wie die soeben beschriebenen, die halbwegs regelmäßig und produktiv sind. Andererseits sind andere Prozesse nur mäßig produktiv; und die Lexikalisierung zerstört jegliche semantische Regelmäßigkeit (Kompositionalität).
Flexion
Die Flexion ist der ganz und gar grammatische, nämlich der für die Syntax relevante Teil der Morphologie.2 Flexion ist in doppelter Hinsicht regelmäßiger als Derivation:
- Eine Flexionskategorie ist im Prinzip auf alle Mitglieder der Wortart, an der sie auftritt, anwendbar. Gegenteilige Fälle sind sporadische Ausnahmen. Z.B. bilden alle deutschen Verben ausnahmslos einen Konjunktiv. Eine Derivationskategorie ist normalerweise nur auf eine Teilmenge der Kategorie von Stämmen anwendbar, die ihre Basis bilden. Z.B. gibt es große Mengen von Verben, darunter die Wahrnehmungsverben wie sehen, hören, riechen usw., die kein Abstraktum auf -ung bilden.
- Das Ergebnis der Kombination eines Stamms mit einer Flexionskategorie ist kompositionell, d.h. die Bedeutung ist durch die Kombination der Bestandteile eindeutig bestimmt. Z.B. bedeutet die Kombination des Konjunktivs mit einem Verbstamm immer dasselbe (etwas wie “Sprecher übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt des dieses Verb enthaltenden Satzes”). Das Ergebnis der Kombination eines Stamms mit einer Derivationskategorie kann eine unvorhersagbare Bedeutung haben. Z.B. bedeutet Vorsehung nichts, was mit vorsehen zu tun hätte, sondern so etwas wie “Schicksalsmacht”.
Flexion ist allerdings nicht notwendigerweise strukturell regelmäßíger als Derivation. In dieser Hinsicht gibt es starke Unterschiede sowohl innerhalb einer Sprache als auch zwischen Sprachen. Im Deutschen z.B. flektieren die Verben der schwachen Konjugation (liebe - liebte - geliebt) regelmäßiger als die Verben der starken Konjugation (nehme - nahm - genommen), und es gibt auch ganz unregelmäßige (suppletive) wie bin - war - gewesen. (Auch die letzteren sind aber, wie gesagt, funktional völlig regelmäßig.)
- In Sprachen wie dem Altgriechischen oder (schlimmer) dem Ketischen (in Sibirien) bildet die Gesamtheit der Flexionskategorien ein vieldimensionales Paradigma, und eine für alle diese Kategorien spezifizierte Verbform besetzt eine bestimmte Position darin. Sie ist als ganze mit einem Ausdruck gepaart, der ziemlich idiosynkratisch sein kann. Es ist so, wie wenn alle deutschen Verben so wie sein konjugierten.
Konjugation von dt. sein Numerus
Person ╲Singular Plural 1 bin sind 2 bist seid 3 ist sind - In Sprachen wie dem Türkischen geschieht die flexivische Abwandlung von Stämmen dadurch, daß es hinter dem Stamm pro Flexionskategorie eine Suffixposition gibt und man in diese das Morphem einsetzt, welches den spezifischen Wert der Kategorie trägt. Man braucht hier nur eindimensionale Paradigmen und kaum morphologische Regeln, denn man fügt lediglich pro auszudrückende Funktion ein Zeichen an. Die Bildung einer Flexionsform ist hier ein konkatenativer Vorgang, fast wie in der Syntax. Zur Illustration hier das türkische Deklinationsparadigma:
Deklination von türk. ev “Haus” NumerusKasus ╲Singular Plural Nominativ ev evler Genitiv evin evlerin Dativ eve evlere Akkusativ evi evleri Ablativ evden evlerden Lokativ evde evlerde
Selbstverständlich gibt es Übergangsformen zwischen den beiden Extremen; das jetzt zu besprechende Beispiel ist eine solche. Angenommen, ein bestimmtes Verblexem ist grammatisch in seinen Satz einzubauen. Dann sind in einem ersten Schritt zunächst für alle Konjugationskategorien die Werte zu spezifizieren, die in diesen Satz gehören. Angenommen, der Satz ist du __ auf mich hören sollen. Dann ist von dem Hilfsverbstamm hab- hier die 2. Ps. Sg. Prät. Konj. Aktiv zu bilden. Die Bildung des zugehörigen Significans kann sodann gemäß dem soeben Gesagten auf zwei verschiedene Weisen ablaufen:
- Entweder man wendet die Gesamtheit der Werte der Konjugationskategorien auf den Stamm an und schlägt das zugehörige Significans in einer Tabelle nach. Für die deutsche finite Verbform wäre das eine fünfdimensionale Tabelle (die Dimensionen sind Person, Numerus, Tempus, Modus, Genus Verbi). Da gäbe es u.a. eine Zelle, die folgende Werte auf sich vereinigt: Person: 2; Numerus: Plural; Tempus: Präteritum; Modus: Konjunktiv; Genus verbi: Aktiv. Für das Verb haben ist dieser Zelle die Form hättest zu entnehmen.
- Oder man entnimmt dem Morphemikon nacheinander die Morpheme, die jeden der spezifischen Werte der Flexionskategorien kodieren, und fügt sie an den Stamm an. Man beginnt daher mit dem Stamm hab- und stellt als erstes fest, daß das Aktiv keinen eigenen Ausdruck hat. Sodann fügt man für Präteritum das Suffix -t an. Für den Konjunktiv hat man nichts anzufügen, sondern stattdessen muß man die Wurzel umlauten. Für die zweite Person fügt man das Suffix -est und für den Singular nichts an.
Es gibt alternative morphologische Theorien, die ausschließlich auf die eine oder auf die andere Weise vorgehen möchten. Aber sachgerechte Sprachbeschreibung hat auf die verschiedenen Ausdrucksverfahren Rücksicht zu nehmen, die in einer Sprache nebeneinander bestehen oder die Sprachen voneinander unterscheiden können. Das eine gerade gegebene Beispiel zeigt schon, daß keine der beiden Beschreibungen optimal ist:
- Die ganzheitliche, auf dem Paradigma basierende Methode ignoriert die bestehende Regelmäßigkeit, z.B. die Tatsache, daß man für schlechthin alle deutschen Verben in der 2. Ps. Sg. bloß das Morphem -(e)st anzufügen braucht (das gilt sogar für sein !). Die Beschreibung ist insofern weder elegant noch ökonomisch und macht keine vernünftige Aussage zu der bestehenden Tatsache, daß jeder, der Deutsch kann, zu einem beliebigen nie gehörten Verb (z.B. konkatenieren) ohne Zögern die 2. Ps. Sg. korrekt bilden kann.
- Die analytische, konkatenative Methode kann erstens bestimmte Formen nicht auf Anhieb korrekt bilden. Es heißt ja nicht habtest, sondern hattest. Hier wäre also nach durchgeführter Konkatenation noch eine außerplanmäßige1 Assimilation mit nachfolgender Vokalkürzung vorzunehmen. Da scheint es denn doch einfacher, mit einem fertigen Präteritalstamm hatt- zu rechnen. Auch wenn die Flexion gar nicht durch Affigierung, sondern durch innere Modifikation geschieht, wie eben beim Konjunktiv, findet nicht eigentlich Konkatenation statt. Die Methode kommt zweitens nicht ohne weiteres mit der Tatsache zurecht, daß bestimmte morphologische Kategorien überhaupt keinen eigenen Ausdruck haben, sondern grundsätzlich mit einer anderen Kategorie im Ausdruck kombiniert sind. Im Deutschen gilt das für Person und Numerus des Verbs. In Wahrheit funktioniert es ja nicht so wie unter #2 am Schluß unterstellt. Statt dessen gibt es ein Morphem der 2. Ps. Sg., nämlich -(e)st, und ein Morphem der 2. Ps. Pl., nämlich -(e)t. Die sind nicht weiter analysierbar (etwa daß -s das Singularmorphem und -t das Morphem der 2. Ps. wäre). Hier muß also auch die konkatenative Morphologie mit vorgefertigten Kombinationen rechnen.
Das Fazit ist, daß es zwei Haupttypen von Morphologie gibt:
- In der fusionierenden Morphologie (wie im Altgriechischen und Ketischen) werden die Werte aller morphologischen Kategorien mit dem Stamm zu einem komplexen Significatum verschmolzen, mit dem als Ganzem ein eigenes Significans gepaart wird.
- In der agglutinativen Morphologie (wie im Türkischen) gibt es pro Wert jeder morphologischen Kategorie ein Morphem, und dieses wird (auf morphologischer Ebene optional) mit dem Stamm sequentiell kombiniert.
Wie aus dem Begriff des Typs folgt, sind beide Verfahren in reiner, extremer Form konzipiert. Wie gesehen, instantiieren konkrete morphologische Formen i.a. Übergangsformen zwischen den Polen. Das macht die Beschreibung nicht einfacher.
1 Es heißt von laben schließlich labtest, nicht lattest.
2 Die einzelnen Kategorien der Konjugation und Deklination sind Gegenstand des grammatischen Metapädeutikums und werden hier vorausgesetzt.