Morphologie (“Formenlehre”) ist der Teil der Grammatik, der die Struktur von Wörtern und Wortformen betrifft.
Syntax (“Satzlehre”) ist der Teil der Grammatik, der die Struktur von Einheiten betrifft, die mehr als eine Wortform umfassen.
Wortstruktur
Ein Wort, z.B. Verladung, besteht aus einem oder mehreren kleinsten bedeutungstragenden Bestandteilen. Davon ist mindestens einer, hier lad-, eine Wurzel, also ein Zeichen mit lexikalischer Bedeutung. Andere sind z.B. Affixe. Das sind unselbständige kleinste Zeichen, die mit Wurzeln oder Stämmen kombiniert werden. Ein Affix, welches seinem Träger vorangeht, ist ein Präfix, wie z.B. ver- in Verladung. Ein Affix, welches seinem Träger folgt, ist ein Suffix, wie z.B. -ung und -en in Verladungen. (Es gibt noch andere Arten von Affixen.)
Präfixe und Suffixe werden in der deutschen Schulgrammatik Vor- und Nachsilben/Endsilben genannt. Diese Ausdrücke sind von allen Verdeutschungen die zweitdümmsten. Schon das Beispiel Ladung zeigt, daß ein Suffix absolut nichts mit einer Silbe zu tun hat. Das einsilbige Wort baust enthält das Suffix -st; und das Präfix über-, wie in übersetzen, ist zweisilbig.
Wortarten
Eine Wortart ist eine Klasse von Wörtern, die durch gemeinsame grammatische Eigenschaften der zugehörigen Wörter definiert ist. Als definierende Eigenschaften kommen morphologische und syntaktische Eigenschaften infrage.
Die deutsche Grammatik unterscheidet traditionell die folgenden Wortarten:
Wortart | Verdeutschung | Beispiele |
---|---|---|
Substantiv | Hauptwort | Stuhl, Donaudampfschiffahrtsgesellschaftsdirektor, Armer, Studieren |
Adjektiv | Eigenschaftswort | arm, römisch |
Numerale | Zahlwort | zehn, zehnter, neuntausendfünfhundertsechsundsiebzig |
Pronomen | Fürwort | du, dieser, der, wer |
Verb | Zeitwort | |
- | Vollverb | studieren, vergackeiern |
Modalverb | - | wollen, müssen |
Kopula | Bindeverb | sein, werden |
Auxiliar | Hilfsverb | sein, haben, werden |
Adverb | Umstandswort | unten, heute, unversehens, unvorsichtigerweise |
Präposition | Verhältniswort | unter, zwischen, an, angesichts |
Konjunktion | Bindewort | oder, aber, weil, wiewohl |
Partikel i.e.S. | wohl, nicht, immerhin | |
Interjektion | Ausrufewort | autsch, plumps, potztausend |
Hier werden zunächst die flektierenden Wortarten behandelt. Sie werden oft auch durch die an ihnen auftretenden Flexionskategorien definiert.
Flexion
Flexion1 (“Beugung”) ist die Bildung von Wortformen durch morphologische Abwandlung von Wörtern (genauer: Stämmen). Die Abwandlungen drücken morphologische Kategorien, nämlich Flexionskategorien aus. Das sind Kategorien von grammatischen Bedeutungen, die für den Satzbau gebraucht, aber an Wörtern ausgedrückt werden.
Im Deutschen und umliegenden Sprachen gibt es die im folgenden aufgeführten Flexionskategorien:
Die Flexion von Nomina heißt Deklination, die von Verben heißt Konjugation.
Die erwähnten Abwandlungen finden im Deutschen und umliegenden Sprachen überwiegend in Form von (Flexions-)Endungen (das sind flexivische Suffixe) statt, wie etwa in liebe - liebst - liebt. Daneben gibt es auch Flexion durch andere Arten der Abwandlung, vor allem:
- Präfixe, wie in laufen - gelaufen;
- Vokalwechsel im Wortstamm, insbesondere Ablaut (spring - sprang, lauf - lief usw.) und Umlaut (Mantel - Mäntel)
- Periphrase, wie in laufe - bin gelaufen.
Nomen
Flexion des Terminus: das Nomen, des Nomens, die Nomina.
‘Nomen’ ist ein Oberbegriff für alle Wörter einer Sprache, welche bestimmte grammatische Eigenschaften mit Substantiven gemeinsam haben. Für das Deutsche ist das Kriterium einfach die Deklination. Zu den Nomina gehören hier also: Substantiv, Adjektiv, Numerale, Pronomen.
Der Ausdruck ‘Nomen’ wird manchmal auch anstelle von ‘Substantiv’ verwendet. Das ist eine terminologische Schlampigkeit, denn dann hat man keinen Terminus für den erwähnten Oberbegriff mehr zur Verfügung. Auch diejenigen, die auf den Oberbegriff ‘Nomen’ zu verzichten glauben, machen in Termini wie ‘Pronomen’ und ‘Verbalnomen’ durchaus Gebrauch von ihm.
Pronomen
Flexion des Terminus: das Pronomen, des Pronomens, die Pronomina.
Ein Pronomen (“Fürwort”) ist ein grammatisches Wort (d.h. ein Wort, dessen Bedeutung eher in einer grammatischen Funktion als in einem Bezug auf etwas Außersprachliches besteht), welches sich syntaktisch ähnlich verhält wie ein Nomen. Je nachdem ob es sich eher wie ein Substantiv oder eher wie ein Adjektiv verhält, unterscheidet man substantivische (z.B. niemand) und adjektivische (z.B. kein) Pronomina. Letztere heißen auch Determinantien.
Es gibt zahlreiche Subkategorien von Pronomina, die sich in ihrer grammatischen Bedeutung und ihren Struktureigenschaften unterscheiden.
Zu einigen dieser Kategorien von Pronomina gibt es auch Adverbien, das sind Pronominaladverbien (oder Proadverbien), wie z.B. (demonstrativ) da, (interrogativ) warum.
Ein Artikel ist ein adjektivisches Pronomen, das lediglich Definitheit (in anderen Sprachen auch Spezifizität) vermittelt (s. §3.3.5). Der definite Artikel unterscheidet sich von Demonstrativpronomina nur graduell. Alle Sprachen haben Demonstrativpronomina; aber z.B. Lateinisch, Russisch, Finnisch und Japanisch haben keinen Artikel.
Der Artikel wird in der deutschen Schulgrammatik Geschlechtswort genannt. Das ist die dümmste Verdeutschung eines grammatischen Terminus. Der Artikel hat mit dem Genus (das ist hier gemeint; s.u.) so viel wie nichts zu tun, außer daß er im Deutschen halt wie viele andere Nomina auch nach dem Genus flektiert (soll man die deswegen dann alle “Geschlechtswörter” nennen?). Bereits im Englischen tut er das bekanntlich nicht.
Pronominale Kategorien
Pronominale Kategorien sind morphologische Kategorien, nach denen Pronomina flektieren. Sie sind in folgender Tabelle zusammengestellt und werden danach einzeln besprochen.
Person
Die grammatische Kategorie der Person hat ihre Basis in dem Verweis auf die Teilnehmer der Sprechsituation, also den Sprecher (1. Person) und den Hörer (2. Person) gegenüber allem, was nicht an der Sprechsituation teilnimmt (3. Person).
Numerus
Flexion des Terminus: der Numerus, des Numerus, die Numeri.
Die grammatische Kategorie des Numerus (“Zahl”) hat ihre Basis in der Unterscheidung des Verweises auf mehrere Exemplare einer Gattung (Plural [“Mehrzahl”], z.B. Ameisen) von dem Fall, daß nicht speziell auf mehrere Exemplare - und insbesondere bloß auf ein Exemplar - verwiesen wird (Singular [“Einzahl”], z.B. Ameise).
Genus
Flexion des Terminus: das Genus, des Genus, die Genera.
Die grammatische Kategorie des Genus (“Geschlecht”) ist eine Einteilung aller Substantive der Sprache in grammatische Klassen, die in der pronominalen Wiederaufnahme und anderen grammatischen Bezügen benutzt werden.
B5. | Das Sofa steht zwischen dem Sessel und der Couch. Wir sollten ihn/sie/es besser rosa beziehen. |
So gewährleistet das Genus des Personalpronomens im zweiten Satz von B5 den Bezug auf einen der im Vordersatz genannten Gegenstände.
Im Deutschen gibt es die folgenden drei Genera:
Das Genus ist eine Eigenschaft eines Substantivs qua Eintrag des deutschen Lexikons. Es ist jedoch nicht am Substantiv selbst ausgedrückt – Substantive deklinieren nicht nach Genus –, sondern nur an solchen anderen Nomina – Pronomina und Adjektiven –, welche nach Genus flektieren und sich dadurch im Satz auf das Substantiv beziehen.
Die Einteilung der deutschen Substantive in Genera hat kaum semantische Grundlagen. Nur für einige Teilbereiche gibt es Regularitäten. Z.B.:
- Bezeichnungen von Flüssen können nur maskulin (Rhein) oder feminin (Mosel), nicht aber neutral sein.
- Dasselbe gilt für Obst: Apfel, Birne.
- Bezeichnungen weiblicher höherer Lebewesen sind häufig Feminina: Nichte, Dirne, Muse, Stute; nicht allerdings Weibsbild, Weib, Mädchen.
- Bezeichnungen männlicher höherer Lebewesen sind häufig Maskulina: Neffe, Gigolo, Schrat, Hengst; nicht allerdings Mannsbild, Wache, Ordonnanz.
- Daneben gibt es zahlreiche Bezeichnungen höherer Lebewesen, deren Genus nichts mit Sexus zu tun hat, darunter die Maskulina Gast, Lehrling, Feigling, Hund, die Feminina Person, Hilfskraft, Waise, Memme, Katze und die Neutra Individuum, Kind, Mitglied, Schaf usw.
Dies kann man freilich nur feststellen, wenn man das Genus nicht von vornherein “Geschlecht” nennt. Aus demselben Grunde heißen die drei Genera so wie oben angegeben, und nicht etwa “männlich, weiblich, sächlich”.
Kasus
Flexion des Terminus: der Kasus, des Kasus, die Kasus.
Der Kasus (“Fall”) ist eine grammatische Kategorie, welche die syntaktische Beziehung eines nominalen Ausdrucks zu dem Ausdruck, von welchem er abhängt, bezeichnet. Die semantische Basis dieser Kategorie sind Relationen von “Mitspielern” in einer Situation wie z.B. Agens, Patiens, Empfänger, Besitzer usw.
Der Kasus wird im Deutschen durch Deklinationsendungen ausgedrückt. Die bei weitem meisten Nomina haben allerdings nicht für alle Kasus verschiedene Endungen; z.B. ist der Nominativ fast immer endungslos. Insoweit kann man den Kasus nicht an der isolierten Wortform, sondern nur im syntaktischen Zusammenhang erkennen. Daß z.B. in Erna gab Erwin ein Buch die drei Substantive im Nominativ, Dativ und Akkusativ stehen, sieht man ihnen nicht an, sondern kann man erst schließen, wenn man festgestellt hat, daß sie in diesem Satz Subjekt bzw. indirektes Objekt bzw. direktes Objekt sind.
Definitheit
Wenn der Sprecher etwas als bisher in der Sprechsituation nicht bekannt bezeichnet, markiert er den Ausdruck dafür als indefinit (“unbestimmt”):
B1. | Es klopfte. Herein trat eine gar schöne Fee. |
B2. | Irgendjemand hat hier ganz unverschämt gelogen. |
Der Artikel in B1 und das Pronomen in B2 sind indefinit.
Wenn der Sprecher etwas als in der Sprechsituation bekannt voraussetzt, markiert er den dieses bezeichnenden Ausdruck als definit (“bestimmt”).
B3. | Herein trat eine gar schöne Fee. Sie schien allerdings etwas verwirrt. |
B4. | Der Lügner wird sich noch verantworten müssen. |
Das Pronomen in B3 und der Artikel in B4 sind definit.
Substantiv
Flexion des Terminus: das Substantiv, des Substantivs, die Substantive.
Statt ‘Substantiv’ wird manchmal auch ‘Nomen’ gesagt; dazu s. oben.
Ein Substantiv (“Hauptwort”) ist ein Mitglied einer Wortart, deren prototypische Mitglieder konkrete individuelle Gegenstände bezeichnen, wie Mädchen, Blume (andere Mitglieder dieser Wortart bezeichnen jedoch auch alle möglichen anderen Entitäten). Die prototypischen Mitglieder haben in jeder Sprache bestimmte grammatische Eigenschaften. Im Deutschen z.B. flektieren sie nach Numerus und Kasus und können von Adjektivattributen begleitet sein. Alle Wörter der Sprache, welche dieselben grammatischen Eigenschaften wie die prototypischen Substantive aufweisen, sind Substantive.
Dasselbe Definitionsmuster ist auf viele Wortarten anzuwenden:
- Es werden prototypische Mitglieder einer Wortart anhand bestimmter Bedeutungseigenschaften ermittelt.
- Es werden deren grammatische Eigenschaften festgestellt.
- Die Wortart wird für diese Sprache eingegrenzt auf diejenigen Wörter, welche die vorgenannten grammatischen Eigenschaften aufweisen.
Deutsche Substantive können nach den Kategorien Numerus und Kasus flektieren, wie das folgende Paradigma zeigt:
Allerdings tun das nicht alle Substantive, z.B. nicht Kasus.
Von den Substantiven gibt es eine Reihe von Unterklassen, von denen die folgenden die wichtigsten sind:
Nomen Proprium vs. Appellativum
Substantive wie Mount Everest, Kopernikus, Erna, Donau, Argentinien sind Nomina Propria (“Eigennamen”). Alle anderen Substantive sind Appellativa (“Gattungsbezeichnungen”), wie Berg, Astronom, Schlampe, Fluß, Land.
Appellativa wie Butter, Salz, Wasser sind Massensubstantive (früher: “Stoffbezeichnungen”); andere wie Löffel, Korn, Insel sind Individualsubstantive (auch “zählbare Substantive”).
Adjektiv
Flexion des Terminus: das Adjektiv, des Adjektivs, die Adjektive.
Ein Adjektiv (“Eigenschaftswort”) ist ein Mitglied einer Wortart, deren prototypische Mitglieder Eigenschaften bezeichnen, wie schön, jung. Im Deutschen flektieren solche Wörter nach Genus, Numerus und Kasus. Prototypische Adjektive können ferner als Attribut zu einem Substantiv konstruiert werden, wie in junge Professorin.
In manchen syntaktischen Positionen, z.B. als Attribut zu einem Substantiv, weist das Adjektiv die genannte Deklination auf. Dient es jedoch als Prädikat, wie in B8.b, oder als Adverb, wie in der Saal ist reich geschmückt, so bleibt es im Deutschen unflektiert.
Einige Adjektive sind auch steigerbar. Die Komparation (“Steigerung”) des Adjektivs hat im Deutschen folgende drei Stufen:
Numerale
Flexion des Terminus: das Numerale, des Numerales, die Numeralia.
Ein Numerale (“Zahlwort”) ist ein Wort, das - qua Mitglied dieser Wortart - eine Zahl oder ein Zahlenverhältnis bezeichnet. Im Deutschen gibt es zwei Subklassen:
Diese - ausnahmsweise rein semantisch definierte - Wortart ist strukturell heterogen, denn einige Mitglieder wie vier verhalten sich i.w. wie Adjektive, während andere wie Million Substantive sind.
Verb
Flexion des Terminus: das Verb, des Verbs, die Verben.
Ein Verb (“Zeitwort”) ist ein Mitglied einer Wortart, deren prototypische Mitglieder Akte (Handlungen) (wie springen, schlagen) bezeichnen; andere Mitglieder dieser Wortart bezeichnen aber auch Eigenschaften, Zustände oder Vorgänge. Im Deutschen flektieren Verben nach den Kategorien Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus verbi.
Ein Verb ist transitiv, wenn es ein direktes Objekt nimmt, wie z.B. schlagen. Andernfalls ist es intransitiv, wie z.B. springen. Die Unterscheidung ist vor allem für die Syntax wichtig, bestimmt aber auch die Bedeutung des Partizips Perfekt (s.u.).
Person und Numerus
Die Kategorien Person und Numerus sind beim Verb für den Hausgebrauch die gleichen wie beim Pronomen. Beim Verb manifestieren sie sich in Konjugationsendungen, wie das Paradigma zeigt:
Tempus
Flexion des Terminus: das Tempus, des Tempus, die Tempora.
Das Tempus (“Zeit”) ist eine Flexionskategorie, deren Grundbedeutung die zeitliche Verortung der bezeichneten Situation mit Bezug auf den Sprechzeitpunkt ist. Im Deutschen gibt es zwei Tempora, die am Verbstamm ausgedrückt werden, nämlich Präsens (“Gegenwart”) und Präteritum (“Vergangenheit”). Dazu kommen weitere Tempora, die mit Hilfsverben bezeichnet werden: Futur (“Zukunft”), Perfekt und Plusquamperfekt (“Vorvergangenheit”).
Die Tempusformen haben noch alle möglichen anderen Funktionen außer dem Zeitbezug. So drückt das Perfekt nicht nur etwas aus, was passiert und noch zum Sprechzeitpunkt relevant ist, wie in ist gesprungen, sondern es drückt auch - als Zustandsperfekt - den nach Abschluß eines Ereignisses erreichten Zustand aus, wie in ist zerbrochen. Das Präteritum drückt nicht nur die Vergangenheit einer Situation, sondern auch deren irrealen Status aus, wie in wenn er spielte, würde er verlieren. Das Futur drückt nicht nur die Künftigkeit einer Situation, sondern auch die Vermutung des Sprechers bzgl. ihres Eintretens aus, wie in wird wohl arbeiten.2
Aspekt
Der Aspekt ist eine Konjugationskategorie, deren Grundfunktion die Hinsicht auf die zeitliche Binnenstruktur einer Situation, insbesondere im Verhältnis zu benachbarten Situationen, ist. Die zeitliche Binnenstruktur einer Situation umfaßt vor allem ihren Anfang, ihren Verlauf und ihr Ende. Besonders wichtig ist die Unterscheidung zwischen einer Außenperspektive, wo die Situation als ganze, also einschließlich ihrer zeitlichen Grenzen, gesehen wird, und einer Innenperspektive, wo man sich gleichsam in der Situation befindet und deshalb ihre Grenzen nicht sieht. Die letztere wird in mehreren Sprachen, z.B. dem Englischen, durch den progressiven Aspekt (“Verlaufsform”) ausgedrückt.
B5. | a. | Linda sang a song; John left. |
b. | After Linda sang a song, John left. |
B6. | a. | Linda was singing a song; John left. |
b. | While Linda was singing a song, John left. |
Die gewöhnlichste Interpretation von B5.a ist B5.b. Die Situation von Lindas Singen wird in ihrer Totalität betrachtet; d.h. die weitere erwähnte Situation - Hans' Abgang - findet jenseits der zeitlichen Grenzen der ersten Situation statt. Die Interpretation von B6.a dagegen ist B6.b. Die Situation von Lindas Singen wird hier in der Innenperspektive betrachtet, d.h. ihre zeitlichen Grenzen werden nicht gesehen. Die weitere erwähnte Situation findet also statt, während die erste noch verläuft.
Während man im Englischen alle Tempora in den Progressiv setzen kann, gibt es in mehreren romanischen Sprachen, z.B. Lateinisch und Spanisch, einen ähnlichen Gegensatz bloß im Präteritum:
B7. | a. | Linda cantó; Juan salió. |
Span | b. | Linda cantaba; Juan salió. |
Auch hier ist die geläufigste Interpretation von B7.a B5.b, und die geläufigste Interpretation von B7.b ist B6.b. In der Grammatik solcher Sprachen nennt sich das Präteritum, welches die Situation im Verlauf betrachtet, also das des ersten Teilsatzes von B7.b, Imperfekt. (Einen Progressiv gibt es im Spanischen zusätzlich.)
Modus
Flexion des Terminus: der Modus, des Modus, die Modi.
Der Modus (“Aussageweise”) eines Verbs ist eine Flexionskategorie, deren Grundbedeutung die Einstellung des Sprechers zum Gesagten ist. Im Deutschen gibt es drei Modi: Indikativ (“Wirklichkeitsform”), Konjunktiv (“Möglichkeitsform”) und Imperativ (“Befehlsform”).
Allerdings gibt es zwei Konjunktive: Konjunktiv I (Konjunktiv Präsens) wie in springest und Konjunktiv II wie in spräng(e)st. Der Konjunktiv I wird nur im Standarddeutschen und nur zur Markierung indirekter Rede (Inhalte, für die der Sprecher keine Verantwortung übernimmt) benutzt.
Genus verbi
Flexion des Terminus: das Genus verbi, des Genus verbi, die Genera verbi.
Das Genus verbi (“Handlungsart”) ist eine Konjugationskategorie, deren Grundbedeutung in der Information besteht, ob das Subjekt des Verbs Agens (Handelnder) ist. Im Deutschen gibt es zwei Genera verbi:
- das Aktiv (“Tatform”) sagt darüber nichts aus (und ist mit einem agentiven Subjekt verträglich);
- das Passiv (“Leideform”) drückt aus, daß das Subjekt nicht Agens ist.
Im Deutschen wird das Passiv eines Verbs wie folgt gebildet: Von dem Verb wird das Partizip Perfekt (s.nächsten Abschnitt) gebildet, und dieses wird mit einer konjugierten Form des Hilfsverbs werden (gelegentlich sein) kombiniert. Diese Verbform nimmt nicht mehr das als Subjekt, was Subjekt der aktiven Form war.
Infinite Verbformen
Eine Verbform, die nach den bisher besprochenen Kategorien flektiert ist, ist finit. Eine Verbform, für die das nicht gilt, ist infinit. Für das Deutsche gilt: eine Verbform, die nicht nach der Person flektiert ist, ist infinit. (Die finiten Formen werden daher auch “Personalformen” genannt.) Infinite Verbformen können auch als abgeleitete Wörter statt als Flexionsformen des Verbs aufgefaßt werden. Sie gehören nämlich anderen Wortarten an: Das Partizip (“Mittelwort”) ist ein Verbaladjektiv; der Infinitiv (“Nennform”) ist ein Verbalsubstantiv. Gemeinsam heißen sie folglich Verbalnomina. Nach derselben Logik gibt es auch – z.B. in romanischen Sprachen – auf Verben basierende Adverbien (Gerundien).
Der Infinitiv transitiver Verben hat auch ein Passiv, z.B. geschlagen werden. Das Genus verbi des Partizips Präsens ist aktivisch. Das Genus verbi des Partizips Perfekt hängt von der Transitivität des Verbs ab: von intransitiven Verben ist es aktivisch (wie in gelaufen), von transitiven Verben ist es passivisch (wie in geschlagen).
Die Partizipien können, qua Adjektive, attributiv zu einem Substantiv konstruiert werden, wie in gelaufene Veranstaltung, geprügelter Hund. Sie können aber auch zur Bildung von anderen verbalen Kategorien eingesetzt werden. Im Deutschen wird mithilfe des Partizips Perfekt das Passiv gebildet, wie in wurde geprügelt. Im Englischen wird mithilfe des Partizips Präsens der progressive Aspekt gebildet, wie in B6.
Kopula
Flexion des Terminus: die Kopula, der Kopula, die Kopulae.
Im Deutschen kann nur ein (finites) Verb ohne weiteres grammatischer Nukleus des Prädikats eines selbständigen Satzes sein. Soll ein nominaler – substantivischer (B8.a) oder adjektivischer (B8.b) – oder ein adverbialer (B8.c) Ausdruck Prädikat sein, so wird eine Kopula zur Konstruktion des Prädikats zuhilfe genommen.B8. | a. | Erna ist eine kongolesische Prinzessin. |
b. | Erna wird steinreich. | |
c. | Erna ist in Übersee. |
Eine Kopula ist folglich ein grammatisches Wort – im Deutschen und umliegenden Sprachen ein Verb –, das mit einem nominalen oder adverbialen Syntagma ein Prädikat ergibt. Das nominale Syntagma in dieser Funktion – also eine kongolesische Prinzessin in B8.a und steinreich in B8.b – nennt sich Prädikatsnomen.
Hilfsverb
Ein Hilfsverb (oder Auxiliar) ist ein grammatisches Wort (im oben definierten Sinn), das mit einer infiniten Form eines anderen Verbs eine verbale Kategorie des letzteren bildet. In einem Ausdruck wie gesungen haben ist gesungen das Vollverb und haben das Hilfsverb. Im Deutschen gibt es drei Hilfsverben: sein, haben, werden. Sie erfüllen verschiedene Funktionen in der Konjugation. Mit sein wird u.a. das Perfekt (ist gekommen) und das Zustandspassiv (ist geschlagen) gebildet. Mit haben wird u.a. das Perfekt (von einer anderen Subklasse von Verben) gebildet (hat gesungen). Mit werden wird das Futur (wird singen) und das Passiv (wird gesungen) gebildet.
In den meisten Sprachen wird nur ein Teil der Konjugationskategorien durch unmittelbare Abwandlung des flektierten Verbstamms selbst (synthetisch) ausgedrückt; die Paradigmen in §3.7.1 und 3.7.4 enthalten Beispiele. Ein anderer Teil wird mithilfe von Hilfsverben ausgedrückt, wie soeben dargestellt. Solche Flexion nennt sich periphrastische Konjugation.
Modalverb
Ein Modalverb ist ein (weitgehend) grammatisches Wort, das mit einer infiniten (oder jedenfalls subordinierten) Form eines Vollverbs kombiniert wird und ausdrückt, daß entweder der Sprecher oder das Satzsubjekt ein besonders bedingtes Verhältnis zu der bezeichneten Situation hat. Die folgende Tabelle enthält die deutschen Modalverben:
wollen |
sollen |
müssen |
dürfen |
können |
mögen |
Im Deutschen kombinieren sich Modalverben mit dem Infinitiv des Vollverbs, wie in kann singen. Ihre Konjugationsformen unterscheiden sich von denen der Vollverben; s.u.
Flexionsklasse
Die Flexionskategorien und ihre Werte sind nicht durch ihre Ausdrucksformen definiert, sondern durch ihre grammatische Funktion. Durch ihre Ausdrucksformen können sie nicht definiert werden, weil diese nicht eindeutig sind. Z.B. bildet das deutsche Suffix -en den Plural von Substantiven (Türen), den Genitiv Singular einiger Substantive (des Menschen), die erste und dritte Person Plural, den Infinitiv und das Partizip Perfekt von Verben (verschlagen) usw. Und andererseits wird der Plural von Substantiven nicht nur mit -en, sondern auch mit -er (Bilder), mit -e (Tage) und noch auf diverse andere Weisen gebildet.
Das Flexionsparadigma eines bestimmten Wortes, z.B. Bild, weist einen bestimmten Satz von Endungen für all die Kategorien und ihre Werte auf; und das Flexionsparadigma eines anderen Worts derselben Wortart, z.B. Tag, weist einen anderen Satz von Endungen an denselben Positionen des Paradigmas auf. Die beiden Wörter gehören verschiedenen Flexionsklassen an. Die Flexionsklasse ist eine lexikalische Eigenschaft eines Worts (die man also mitlernen muß), die die morphologischen Formen seiner Flexion bestimmt.
Deklinationsklasse
Im Deutschen gibt es drei große Deklinationsklassen, “stark”, “schwach” und “gemischt”. Sie sind durch die in der Tabelle angegebenen Kennzeichen definiert:
Nach denselben Klassen flektieren auch Adjektive. Allerdings flektiert ein Substantiv nach genau einer, lexikalisch festgelegten, Deklinationsklasse, während ein Adjektiv rein morphologisch auf alle Weisen deklinieren kann. Nach welcher es dekliniert, hängt von seiner jeweiligen syntaktischen Konstruktion, genauer: von den Determinantien (Pronomina), die ihm in der Nominalgruppe vorangehen, ab. Vgl. z.B. ein alter Mann mit der alte Mann.
Konjugationsklasse
Im Deutschen gibt es drei große Konjugationsklassen, die starke, schwache und gemischte Konjugation (die Begriffe haben mit den gleichnamigen bei der Deklination wenig zu tun). Sie sind wie folgt definiert:
Von den starken Verben gibt es diverse Subklassen. Man gibt sie für ein Verb am einfachsten dadurch an, daß man dessen Stammformen angibt. Das sind die in der vorigen Tabelle bereits benutzten, also:
Stammform | Beispiel |
1. Sg. Präs. Ind.Akt. | springe |
1. Sg. Prät. Ind. Akt. | sprang |
Partizip Perfekt | gesprungen |
Die Modalverben gehören einer Konjugationsklasse für sich an. Sie unterscheiden sich von den Vollverben nicht nur in der Stammbildung, sondern auch in den Endungen, wie die folgende Gegenüberstellung verdeutlicht:
1 Es heißt Flexion, nicht Flektion, genau wie in Reflexion (zu reflektieren), Annexion (zu annektieren) usw.
2 Somit bietet auch das Tempus wieder klare Beispiele dafür, daß es nicht sinnvoll ist, statt Tempus Zeit, statt Präsens Gegenwart, statt Präteritum Vergangenheit und statt Futur Zukunft zu sagen.